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Kultur: Weniger ist Vermeer

Sittengemälde einer beschleunigten Epoche: Das Frankfurter Städel feiert die Blüte der Genremalerei

Sie saufen und raufen, sie huren und spielen mit gezinkten Karten – und trotzdem haben wir uns an ihren Liederlichkeiten und kleinen Gaunereien seit 400 Jahren nicht satt gesehen. Die Genrebilder gehören zur beliebtesten Gattung der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. In den Galerien der Welt ziehen zwar die großen Namen an, Rembrandt, Rubens, aber das Leben der kleinen Leute, die Liebschaften und Gelage der Reichen, das fasziniert auch von unbekannteren Künstlern bis heute. Denn auch wenn Kaschemmen längst nicht mehr so aussehen wie damals, die Kleidermode kaum noch gefältelte Hemden und Stulpenstiefel kennt, so suchen wir doch immer auch uns selbst in den dargestellten Szenen. Darin gründet die Beliebtheit der Genremalerei, das ist das Erfolgsgeheimnis der Schau im Frankfurter Städel.

So erstaunt es, dass die letzte große Überblicksausstellung in Deutschland, die nach Berlin in London und Philadelphia zu sehen war, über zwanzig Jahren zurückliegt. Die Frankfurter Schau „Der Zauber des Alltäglichen“, übernommen vom Rotterdamer Museum Bojmans Van Beuningen, versucht deshalb, neue Standards zu setzen. Sie will aufräumen mit dem Interpretationsballast der vergangenen Jahre. Die unter Kunsthistorikern bislang übliche Deutung der Alltagsszenen als moralischer Zeigefinger – Seht, was herauskommt beim Saufen und Raufen, Lügen und Betrügen! – wird über Bord geworfen. Stattdessen soll der Betrachter jedes Bild für sich und für die künstlerische Leistung des Erschaffers sprechen lassen.

Die Kritik an derlei Kritiklosigkeit ließ nicht lange auf sich warten, zumal die mit 77 Gemälden bestückte Ausstellung, darunter allein fünf Vermeers, von einer bemerkenswerten Werbekampagne begleitet wird. Quer über ein Gemälde Adriaen Brouwers, das einen Quacksalber in einer Kneipe bei einer Rückenoperation zeigt, steht das Wort „Tattoo“ geschrieben. Das Werk „Der bittere Trank“ mit einem Burschen, der sein Gesicht vor Ekel zur Grimasse verzieht, ziert der Schriftzug „Punk“, und die entzückende Briefeschreiberin Vermeers hat den Begriff „E-Mail“ verpasst bekommen. Solch Oberflächlichkeit schüttelte die konservativen Kritiker als wäre es ebenfalls bittere Medizin. Ihr Vorwurf eines allzu leichtfertigen Umgangs mit den Motiven wiegt allerdings schwerer. Das mag ein Gelehrtenstreit sein und für das große Publikum nicht weiter von Relevanz. Trotzdem bleibt auch Jahrhunderte später die ursprüngliche Aussage eines Gemäldes noch bedeutsam und was es, genauer: was seine Interpretation, wiederum über uns aussagt.

Willem Buytewechs „Fröhliche Gesellschaft“ (1617/20), mit der die chronologische Hängung beginnt, ist darüber zum Zankapfel geworden. Verbergen sich hinter den fröhlichen Zechern die fünf Sinne? Oder wollte der Maler die vier Elemente symbolisieren? Ist hinter den von einem Dienstmädchen servierten Artischocken, die damals als Aphrodisiakum galten, und der Wurstkette um den Hals eines Saufkumpanen nur eine deftige Anspielung, sondern auch Tadel am Laster zu erkennen? Gewiss, Ausstellungskurator Jeroen Giltaij macht es sich leicht, wenn er Buytewechs Szene nur noch als „witzig“ oder „reizvoll“ bezeichnet. Selbst in Zeiten, in denen Gemäldeausstellungen mit knalligen Reizworten wie „Tattoo“, „Punk“, „Breakdance“ aktualisiert werden, sollte hinter der pfiffigen Marketingidee mehr Inhaltliches rüberkommen.

Wozu dienten die massenhaft in den Niederlanden auf den Markt geworfenen Genrebilder, die ansonsten in Europa unüblich waren? Der Bedarf muss ungeheuer gewesen sein; das zu Reichtum gekommene Bürgertum des „Goldenen Zeitalters“ schmückte damit die Wände seiner neuen Häuser und stillte offenbar eine Sehnsucht nach kleinen alltäglichen Begebenheiten, die in der beschleunigten Epoche des 17. Jahrhunderts abhanden zu kommen schienen. Mit den Jahren allerdings verfeinert sich der Geschmack, die Interieurs wurden lieblicher. Noch stecken sie voll grober Anspielungen, etwa in Jacob Ducks Gemälde „Die Eingeschlummerte“, das eine schlafende junge Frau an einem Tisch sitzend zeigt. Ihr linker Zeigefinger und der Daumen formen eine ovale Öffnung, während ein vor ihr stehender Mann mit Federhut den Daumen in obszöner Geste vorstreckt.

Gegen Ende, in den 1670er Jahren, werden die Szenen häuslicher, stiller. Zu den ergreifendsten Bildern gehört „Das kranke Kind“ von Gabriel Metsu, das den Betrachter aus fiebrigen Augen anblickt, während sich die Mutter sorgenvoll über den kleinen Körper beugt. Die Hinterhöfe und häuslichen Milieuschilderungen eines Pieter de Hooch haben nichts mehr gemein mit dem einstigen Treiben, das mit offenen Vogelbauern, zerbrochenen Pfeifenstielen und umgekippten Gläsern vor pikanten Anspielungen nur so strotzte. Wo zuvor die Niederungen des Alltags die Szene prägten, breitet sich nun ein Zauber aus, der das Überwirkliche berührt.

Bereits hinter den Bauern und Besoffenen steckten nie Porträts bestimmter Personen. Vermeers Lautenspielerinnen, Briefeschreiberinnen, ja selbst sein „Geograf“, für den vermutlich der Delfter Naturwissenschaftler Antoni van Leeuwenhoeck als Vorbild diente, stehen allein für sich, das Momenthafte des Augenblicks. Trotz all ihrer Alltäglichkeit sind sie einer konkreten Gegenwart enthoben und uns deshalb besonders nah.

Städel, Frankfurt/Main, bis 1. Mai; Katalog (Hatje Cantz Verlag) 29,90 €.

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