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Kultur: Wenn Eichhörnchen zu wenig lieben

Uraufführung in Schwetzingen: Adriana Hölszkys böses Musiktheater „Der gute Gott von Manhattan“ nach Ingeborg Bachmann

Dieser Park, daran besteht kein Zweifel, ist sich selbst genug: Pfauen schlagen ihre eitlen Räder, der Abendstern zieht königlich herauf, Kastanien, Flieder, Bärlauch duften, Amseln jubilieren, und am Horizont das Schloss putzt sich für die Nacht. Schwetzingen, das ist immer auch: ein Stück erinnerte, konservierte Utopie. Perfektes Sinnbild für die Sehnsucht des modernen Großstadtmenschen nach einem locus amoenus, Metapher für sein unstillbar sentimentales Verlangen nach Ruhe, Ordnung, Schönheit. Wozu jetzt überhaupt Kunst, fragt man sich, wozu ausgerechnet hier der erneute Versuch, die Oper zu retten, diesen Saurier, und im ollen Guckkasten nach den Zeitgenossen der Zukunft zu fahnden, den Helfern, Tröstern, Salben- und Orakelgebern?

„Ich bin mit dir und gegen alles“, gesteht Ingeborg Bachmanns Jan seiner Jennifer – und „die Gegenzeit beginnt.“ Eine erschreckend romantische Liebeserklärung: des Mannes an die Frau, der Liebe selbst an eine lieblose, fühllose Welt, der Kunst an die Kunst. Denn Liebe ist Anarchie, Widerstand, gelebte Unordnung, so lehrt uns die Dichterin, Liebe bricht mit allen Gesetzen des Raumes und der Zeit – und wird nicht selten mit dem Tod dafür bestraft. Will man das? Kann man das?

In diesem Sinne mag das Schwetzinger Rokoko-Theater für Adriana Hölszkys neues gewaltiges Musiktheater „Der gute Gott von Manhattan“ nach dem gleichnamigen Bachmann-Hörspiel von 1957 der schlechteste und beste Ort zugleich sein. Der schlechteste, weil das Instrumentarium des Stücks (48 Musiker, darunter so Exotisches wie Alphorn, Cymbal, Gitarre, Akkordeon, Saxophon und Mundharmonika) den winzigen geduckten Raum schier sprengt, sich mühsam auf Graben und Rang verteilt, und weil sich alles Elektronische hier ohnehin verbietet. Das Wandern der Klänge, das rastlose Aushöhlen und Unterlaufen der autoritären Zentralperspektive – ein Merkmal Hölszky’schen Komponierens spätestens seit den „Wänden“ –, es findet ganz unmittelbar statt, entbehrt jeder aufwändigeren Illusion. Als wiederum bester Ort für dieses Stück aber erweist sich das Theater durch seine Befremdlichkeit. Wie Schlosspark und Weltgetümmel kollidieren, ohne sich je zu berühren, so scheint sich nichts näher und ferner zu sein als das Rokoko-Ambiente einerseits und Hölszkys deftig-drastische, grotesk Fratzen schneidende, hysterisch überreizte, hitzig-witzige Klangsprache andererseits. Diese Musik – und das wird früh klar, in der belcantistischen Ekstase der Liebenden, im Raunen der geheimnisvollen Zigeunerin – löscht sich über kurz oder lang selbst aus. Ihre splittrige Faktur wird immer splittriger, wüster, geräuschhafter, kratzender, schabender (hochkonzentriert: das Radiosinfonieorchester Stuttgart des SWR unter Alexander Winterson), und alles, was strukturell der Orientierung dienen könnte, gibt mit Todesverachtung seinen Geist auf, zerbröckelt, zerbröselt, zerstäubt.

Diese Musik ist wild entschlossen, die „Grenzen des Alls“ zu übersteigen, sie rennt sich den Kopf ein, zerschellt an den Konventionen des Ausdrucks (und an denen der Avantgarde!), so dass es nur konsequent wäre, wenn sie sich in ihrer Emphase, ihrem Zorn, ihrem Galgenhumor und Mutwillen schließlich selbst in die Luft jagte – und Theater und Schlosspark gleich mit. Einer ähnlichen Vision gab sich übrigens schon Richard Wagner hin, als er an „Siegfrieds Tod“ arbeitete, der Vorstufe des „Rings“: Drei Aufführungen sollte es geben, danach würde die Partitur verbrannt und das eigens erbaute Opernhaus wieder eingerissen. „Der gute Gott von Manhattan“ als Gesamtkunstwerksparodie, als Kriegserklärung an alle Kunst, die sich solchem Schmerz, solcher Existenzialität verweigert?

Konzeptionelle Kopfgeburten freilich waren Hölszkys Sache nie. Ihr geht es nicht um die abstrakte Zukunft des Musiktheaters, sondern um die Explosivität des Augenblicks. Das Interessante an einem Igel seien die Weichteile, hat sie in ihrer sybillinisch-verhuschten Art einmal zu bedenken gegeben, nicht die Stacheln. Bachmanns Text (von Yona Kim unaufdringlich in Librettoform gebracht) ist ein glänzendes Katapult für diese Suche nach dem ungeschützt Wahrhaftigen. Denn Hölszkys Partitur saugt sich förmlich fest am hohen Bachmannschen Liebeston und seinen schamlosen Abgeschabtheiten (Jennifer: „Ich liebe. Ich bin außer mir. Ich brenne bis in meine Eingeweide vor Liebe, ich verbrenne die Zeit zu Liebe.“), ja mehr noch: Sie verkeiltdas eine untrennbar, unrettbar ins andere.

Wo Bachmann wenigstens noch an den Verlust der Liebe glaubt und an den der Anarchie, da sind Hölszkys Figuren, 45 Jahre später, komplett desillusioniert. In ihren Augen und Ohren ist das Ganze – bei aller Ehrfurcht der Komponistin vor der Dichterin! – kaum mehr als ein müde klapperndes Ritual (wobei Ann-Katrin Naidu und Andreas Scheibner als Liebende dieses Bewusstsein arg deutlich an den Tag legen). Prompt rückt Hölszky auch das etwas altbacken wirkende Spiel im Spiel ins Zentrum ihrer Lesart – jenes Marionettentheater nämlich, in der Frankie und Billy, die beiden bösen Eichhörnchen, mit den Liebespaaren der Weltliteratur lustvoll kürzesten Prozess machen (von Orpheus und Eurydike bis Tristan und Isolde). Und entsprechend finden sich auch die Chorszenen, die bei Bachmann allenfalls Plakatwert haben, musikalisch aufgewertet: als hinreißend polyphone Drohgebärden, als singende, klingende Notrufsäulen einer jederzeit „funktionierenden“ Gesellschaft.

Unsere Welt, sie ist zu voll und zu leer, als dass die Menschen jemals noch wirklich zueinanderfänden. Darin liegt das genialisch Hellsichtige, das „Weiche“ dieser Partitur, die nach 90 Minuten erschütternd leise vertröpfelt, verplätschert, als sei gar nichts geschehen.

Zuvor aber kredenzt der gute Gott, der oberste Hüter der Weltordnung (grandios in seinem enthemmten Kreischen: Countertenor Daniel Gloger), den Liebenden noch eine Bombe. Pech nur, dass Jan nicht da ist, als das Ding in die Luft fliegt. „Gründliche Explosion und schlechte Berechnung. Ein Toter zu wenig.“ – so das Fazit der beiden Hörnchen (Birgit Fandrey und Anja Maria Kaftan), die mit ihren höhnisch-schrillen Koloraturen die Strippen ziehen. Anfangs lässt Regisseur Stephan Kimmig sie im naturalistischen Nager-Fell agieren, was ziemlich lustig ist. Dass darunter irgendwann zwei Security-Leute zum Vorschein kommen, ist dann nicht mehr so lustig – wie sich die Inszenierung überhaupt gern im zeitgeistig Verwechselbaren verliert.

Erregt, ertappt taumeln wir hinaus in die tintenblaue Schlossparknacht. Ein letzter Pfauenschrei zerreißt die Luft. Weiße Hirsche speien weißes Wasser. Jetzt lieben, sofort. Oder sterben. Welch irre Lust. Aber wie sagt Adriana Hölszky: Nicht die Kunst sei das Problem, sondern das Leben.

Christine Lemke-Matwey

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