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Kultur: Wenn Gott zum neuen Menschen wird

Siena entdeckt das Malergenie Duccio di Buoninsegna. Und im ehemaligen Hospital Santa Maria della Scala entsteht eine Museumsstadt der Superlative

Siena im Dezember 2003: Kann es eine besseres Bild geben für das Wort des Jahres „Altes Europa“ als die Gestalt dieser toskanischen Stadt, die sich, seit Jahrhunderten fast unverändert, dramatisch die umsäumenden Hügeln hinaufdrängt? Eine ganze Stadt als wahre Enzyklopädie von Terracotta-Farben? Mauer an Mauer, Dach an Dach, wachsen sie hin zum Dom, hin zum Turm des Palazzo Publico über dem fächerförmigen Platz, auf dem im Sommer der „Palio“, das mittelalterliche Pferderennen, ausgetragen wird: mit einer Entfesselung all der vormodernen Leidenschaften, die sonst aufgehoben sind in der Kunst.

Dennoch findet der Spaziergänger in den engen Gassen schon die ersten Vorposten der atlantischen Zivilisation. An manchen Renaissancefassaden klettern uns wohlvertraut die schreiend roten Weihnachtsmänner empor. Noch sind sie traurige Gesellen, erinnernd eher an schlaffe Säcke, machtlos gegen die Allgewalt von Schönheit und Geschmack. Noch hat eine über Jahrhunderte glanzvolle Geschichte das Sagen in Siena – etwa in einem Fenster, darin ein Schild verkündet: „Non restauro – solo pittura“. Ein Maler ist da am Werk, der sich aufs millimetergenaue Kopieren von Tafelbildern der Frührenaissance geworfen hat, mit Eitempera und Blattgold.

Das Merkwürdige ist, dass auch nicht der Schatten eines Kitsch-Verdachtes aufscheint, so ernsthaft ist die Versenkung in die alte Technik. Auch einige Tafeln des Duccio sind bei ihm im Programm. Man erkennt sie an der Dominanz strahlender Rottöne. Ganz Siena ist in diesem Winter in dieses Rot getaucht. Die Plakatwände, um diese Jahreszeit sonst alleinige Domäne würdevoller Todesanzeigen, sind bunt gesprenkelt mit Kunst. Die Stadt feiert Duccio di Buoninsegna, will endlich den Namen des Sieneser Maler-Revolutionärs von 1300 deutlicher einschreiben in die europäische Kunstgeschichte. Duccio (um 1255 bis 1319) begründete zusammen mit den Florentinern Cimabue und Giotto in den Tagen Dantes den Vorrang der italienischen Malerei in der damaligen Welt. Die beiden Florentiner hatten aber die besseren literarischen Promoter. Dante preist Cimabue und Giotto, und in seinem Gefolge hat Giorgio Vasari, der Begründer der Kunstgeschichtsschreibung, Giotto auf dreißig, Duccio aber nur auf vier Seiten und ohne Begeisterung gewürdigt. Der Wettkampf der italienischen Städte um Macht und Einfluss wurde nicht zuletzt mit den Mitteln des Kunstprestiges ausgefochten.

Wer will, kann ein ähnliches Phänomen auch in jüngster Zeit in Italien beobachten, als Standortkonkurrenz der wirtschaftlich ehrgeizigen Stadtregionen: In Rovereto hat die autonome Provinz Trient von Mario Botta ein Museum des Futurismus und der Kunst des 20. Jahrhunderts bauen lassen, das jeder Großstadt würdig wäre. In Mailand hat die Kulturchefin Alessandra Mottola-Molfino, Italiens gewiss bedeutendste Museumsfrau, ein ambitioniertes Bauprogramm rund um die Restaurierung des Palazzo Reale in Gang gesetzt. In Brescia ist in den letzten Jahren der mittelalterliche Klosterkomplex von Santa Giulia als Kunstmuseum erschlossen worden. Und Siena unternimmt die grandiose wissenschaftliche Anstrengung der Duccio-Ausstellung als Teil einer umfassenden historisch-kulturellen Standortbesinnung.

Für Duccio ist so ein später Durchbruch gelungen. Der Sieneser gehört jetzt gesichert zu den Malern, die das Fenster aufgestossen haben zu jener Epoche der Kunst, die dann siebenhundert Jahre währte bis zum Anbruch der Abstraktion: die Epoche der Auseinandersetzung um eine immer neu zu definierende Realität. Den Anlass zur Duccio-Ausstellung hat jetzt die Restaurierung der grossen Marienscheibe von 1287 aus dem Chorfenster des Domes gegeben. Duccios diskret revolutionäre, den hochmittelalterlichen Schematismus durch überraschend realistische Gesichtszüge verlebendigende Hand kann man nun endlich wiedererkennen. Es ist faszinierend, in diesen fast verwischten, durch frühere Reinigungen fast unsichtbar gewordenen Pinselstrichen einer Schlüsselfigur der europäischen Kunst über die Schulter zu blicken. Es ging ja gegen 1300 um nichts Geringeres, als eine neue Malerei zu erfinden, die auf den emanzipierten Menschentypus der italienischen Stadtrepubliken mit ihren modernsten Gesellschaften der damaligen Welt antwortete. Inwieweit Duccio selbst diesem Typus entsprochen hat, kann man spärlicher Quellen halber nur ahnen. Er war ein Unangepasster, häufig mit Autoritäten Kollidierender, der seine Kunst wichtiger fand als den Kriegsdienst für Siena. Sein Hauptwerk, die riesige Marienapotheose für den Sieneser Dom, die „Maestà“ hat er selbstbewusst, für alle lesbar signiert: MATER SANCTA DEI/SIS SENIS REQUIEI/SIS DUCIO VITA/TE QUIA PINXIT ITA („O Heilige Muttergottes/ Sei Sienas Frieden/Schenk Leben dem Duccio/Der Dich so gemalt hat).

Der junge Duccio hatte noch in Ehrfurcht vor dem starren byzantinischen Ikonentypus begonnen: zweidimensional formalisierte Gesichter, durch grüne Untermalung Unwirklichkeit ausstrahlend. Dann der fast unmerkliche Bruch. Zum ersten Mal erblüht auf plastisch gesehenen Wangen die Farbigkeit wirklicher Haut. Mit zärtlichem Rosa überhauchte Wangen werden seit Duccio zum Erkennungszeichen der Sieneser Malerei. Duccios Madonnen bekommen zudem durch die sanfte Neigung der Köpfe, durch ihre zarte Gestik eine Lieblichkeit, die sich weder bei Giotto noch bei Cimabue findet. Und hundert Jahre vor der exakten Perspektivenmessung dringt bei Duccio Realität ins Heilige hinein, in leuchtenden Farben, in Rottönen vor allem, die Duccio so verschwenderisch verwendet, für Kleider wie für die Architekturen.

Im künstlerischen Aufstieg des scheinbar Nebensächlichen manifestiert sich die Revolution des Sehens: Bei Christi Einzug nach Jerusalem klettern die Gaffer die Bäume hoch. Jesus wäscht den Jüngern die Füße, der Blick des Malers gilt hier auch einer exakten Wiedergabe der abgelegten Sandalen. Und Duccio weiß bereits, wie unübersichtlich Ereignisse sein können: Die Soldaten im Garten Gethsemane haben nur im Vordergrund Gesichter, von den weiter Entfernten sieht man nur Helmspitzen und hochgereckte Fackeln. „Noli me tangere“:Maria Magdalenas vergebliche Sehnsucht nach der Berührung mit dem Geliebten, Jesus’ zärtliche, abwinkende Gebärde – eine Szene, psychologisch gedeutet als wirklicher Liebes –Abschied.

Diese Duccio–Ausstellung ist ein Magnet. Aber das Interesse gilt gleichermaßen dem Schauplatz der Ausstellung, dem Museum „Santa Maria della Scala“. Gegenüber dem Dom erstreckt sich eine eher unscheinbare, langgestreckte mittelalterliche Fassade. Dahinter verbirgt sich ein Gebäudekomplex von den Ausmaßen eines ganzen Stadtteils: Er ist heute die größte Museumsbaustelle Italiens. Europas ältestes Krankenhaus, ein Pilgerhospital, um das Jahr 1000 gegründet, ist bis vor zwanzig Jahren auch Geburtsort und Krankenhaus der meisten heutigen Sieneser geblieben. Alte Photographien zeigen die Krankenbetten unter den Tonnengewölben mit Renaissancefresken. Santa Maria della Scala lag am großen Pilgerweg vom Norden Europas nach Rom. Durch Schenkungen und Erbschaften, erdrutschartig vor allem nach der großen Pest von 1348, wurde das Hospital zum größten Landbesitzer der Toskana rings um Siena. Es war ein mächtiger Wirtschaftsplatz, war Drehscheibe der städtischen Sozialpolitik und des religiösen Lebens, war Auftraggeber für die Künstler Sienas. Vom Niveau des Domplatzes an erstreckt sich der Gebäudekomplex viele Stockwerke tief bis an den Fuß des Berges, auf dem Siena liegt, und gräbt sich auch in den Tuffsteinfelsen hinein. Im Laufe der Jahrhunderte hat das Hospital ganze Straßenzüge überbaut, beginnend mit den noch erhaltenen Römerstraßen. Am Schluss war ein Labyrinth von hunderttausenden Quadratmetern entstanden, das jetzt als „Zeitmaschine“ erschlossen wird. Guido Canali, ein Architekt in der Nachfolge der De-Stijl-Tradition und des großen Rationalisten Carlo Scarpa, hat die imposanten mittelalterlichen Strukturen von den Überbauungen des 19.und 20. Jahrhunderts rigoros befreit. Mit jedem Schritt in die Tiefe der Zeit und des Labyrinths eindringend wie Odysseus in die Unterwelt, wird der Besucher in ein faszinierendes „archäologisches“ Gefühl gezogen. Noch nie habe ich die etruskischen und römischen Altertümer in einer derart berührenden Stimmung wahrgenommen – das kommt daher, dass nicht künstliche Museumsinstallationen, sondern wirkliche Zeitschichten den Hintergrund bilden. An einer der Biegungen hinab in die Vergangenheit begegnet man dem Massengrab der großen Pest von 1348 und fühlt sich nahe der Zeit Boccaccios und des „Decamerone“: die Knochen, die Kalkschichten zur Desinfektion, alles, als sei es erst vor kurzem geschehen. Zehn Stockwerke höher geht man durch die verlassenen Klinikräume, in denen noch die Schilder auf die Psychiatrie oder Gynäkologie hinweisen. Dort wird eines Tages das Kunstmuseum Sienas großzügigen Platz finden.

Die Dimensionen machen den Besucher aus dem Norden, der aus dem Land der kulturpolitischen Melancholie kommt, ungläubig staunen. „Santa Maria della Scala“ ist aber möglich durch ein einmaliges Experiment: Siena hat Kommunalobligationen ausgegeben, die gezielt der Projektfinanzierung dienen, Kulturpfandbriefe sozusagen. Und das älteste Geldinstitut Italiens, die mächtige Banca Monte di Pascha di Siena, hat Santa Maria della Scala adoptiert. Glückliches Italien. Unterhalb der umstrittenen römischen Politik lebt in den stolzen Regionen oft noch der vitale Dreiklang aus Geld, Geist und Gemeinsinn weiter, der einst die Renaissance ermöglicht hat.

Duccio. Alle origini della pittura senese. Siena, Santa Maria della Scala und Museo dell’Opera. Bis 11. Januar 2004, täglich 9 – 19.30 Uhr, freitags und samstags bis 22 Uhr. Der Katalog kostet 48 Euro und ist bei Silvana Editoriale erschienen.

Weitere Informationen im Internet:

www.duccio.siena.it

Christoph Stölzl

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