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Kultur: Wenn Gretchen Hip-Hop tanzen geht Kriegenburgs „Urfaust“ am Thalia in Hamburg

Am Anfang ist das Licht. Ein einsamer Strahl wagt sich ins Dunkel, in die Stille.

Am Anfang ist das Licht. Ein einsamer Strahl wagt sich ins Dunkel, in die Stille. Ein paar Hände spielen darin, minutenlang. Dann tauchen ein Kopf, ein Körper hinein. „Ach!“ seufzt eine alte, brüchige Stimme und verweist auf einen großen Monolog, einen der berühmtesten der Theatergeschichte. Es ist Katharina Matz, die sich am Thalia Theater durch den Anfang von „Urfaust“ seufzt. Seit über 50 Jahren spielt Matz Theater, nun den Faust mit einem einzigen „Ach!“. Wenig später wird sie den Anfangsmonolog schweigend herunterblättern. Regisseur Andreas Kriegenburg, der mit Intendant Ulrich Khuon in der kommenden Spielzeit ans Deutsche Theater Berlin wechseln soll, gibt der Schauspielerin dafür übergroße Karteikarten an die Hand.

Es ist Kriegenburgs Hamburger Abschiedsvorstellung. Sein Faust ist müde und desillusioniert. Er mag nicht schon wieder von sich und seinem Leben reden, vom Studieren und Nichtwissenkönnen. Dieser schweigende, verlorene Faust berührt. Der Zuschauer liest die Verse, den Text selbst – fast erleichtert darüber, dass er ihn nicht schon wieder hören muss. Stattdessen hört er penetrante Barockmusik: nicht enden wollende Klänge und Gesänge von Purcell und Bach.

Der „Urfaust“, das sind 22 Szenen, die der junge Goethe zwischen 1773 und 1775 schrieb. Ein „höchst konfuses Manuskript“ nannte er das Fragment später. Diese erste Bearbeitung ist ein Faust ohne Prolog im Himmel, ohne Wette um Fausts Seele, ohne Osterspaziergang, Hexenküche und Verjüngungstrank. Ohne Walpurgisnacht und ohne Gretchens Erlösung. Der „Urfaust“ ist, was übrig bleibt: die Gretchentragödie. Doch im ersten Teil ist von Gretchen keine Spur. Faust ist alt und allein und lebt in einem Bunker. Dementsprechend hat Kriegenburg den Raum gestaltet: hohe Wände, dunkle Farbe, Deckel drauf. Hin und wieder kommt Besuch. Etwa der alternde Wagner, den Markwart Müller-Elmau als schrulligen Hausmeister spielt, oder ein in die Jahre gekommener, wenig komischer und dauerfurzender Student (Harald Baumgartner) und schließlich Mephistopheles (Natali Seelig). Der natürlich hinkende Teufel wälzt sich animalisch aus der Ecke in einen schwarzen Anzug und stolziert dann weiß geschminkt, mit Hut und Stock (Kostüme: Andrea Schraad) durch Fausts Leben. Natali Seelig ist ein wendiger Pandora-Teufel, ein Conferencier und Gentleman, ein Lude und ein Falschspieler. Wäre ihr schlampiges Geschnarre verständlicher, so wäre dieser Mephistopheles ein Hauptgewinn.

Da Kriegenburg trotz „Urfaust“-Fassung auf Fausts Verjüngungskur nicht verzichten will, erlöst Hans Löw für den zweiten Teil seine ältere Kollegin aus der Rolle. Pathetisch wird er dafür aus einem Bluthautfetzen geschält und wiegt anschließend Katharina Matz in seinen Armen. Nach der Pause kann die Liebesgeschichte zwischen den beiden jungen Menschen beginnen, die Gretchentragödie. Hip-Hop dröhnt aus den Boxen, zu dem Lisa Hagmeister ihre langen Zöpfe und Arme durch den Raum schleudert. Ihr Gretchen ist selbstbewusst, ein fucking-fluchendes girl, lustvoll und lebenshungrig. Als Faust fällt Hans Löw dazu nicht viel ein. Die Hände in den Hosentaschen, steht und starrt er, von Erlebnissucht und Tatendrang keine Spur. Warum sich Gretchen in ihn verliebt? Bald kleben sie knutschend aneinander, wälzen sich über Bett und Boden.

Danach ist „die Ruhe hin“ – für alle Beteiligten, Marthe (Sandra Flubacher) und Mephistopheles inklusive. Reihum sprechen sie Gretchens Verse am Spinnrad, tigern im Betonkäfig umher. Die Liebe ist geschehen, die Tragödie abzusehen. An deren Ende steht Gretchen allein. Lachend schreit sich Lisa Hagmeister in den Wahnsinn. Es ist ein bisschen von allem was dabei an diesem Abend, der allzu zweigeteilt daherkommt: Liebe, Tragik, Pathos und Klamauk, Hip-Hop, Barock, Jugend und Alter. Was in diesem gauklerisch-verspielten Durcheinander unklar bleibt, ist Kriegenburgs Regieidee. Katrin Ullmann

Katrin Ullmann

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