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Kultur: Wenn in Absurdistan die Post abgeht

Auf zum großen Zappeln: Peter Mussbach inszeniert Lehárs „Lustige Witwe“ an der Berliner Staatsoper

Natürlich muss jeder Intendant die Möglichkeit haben, eine Inszenierung in letzter Sekunde zu kippen – wenn es darum geht, Unglück von seinem Haus abzuwenden. Anfang der neunziger Jahre ist das beispielsweise an der Komischen Oper passiert, als Christine Mielitz’ Deutung der Donizetti-Farce „Viva la mamma“ nach der Generalprobe abgesagt wurde. Auch die für alle Beteiligten rufschädigende Produktion der „Lustigen Witwe“ hätte eigentlich kein verantwortungsvoller Theaterleiter am Sonnabend so über die Bühne der Berliner Lindenoper gehen lassen dürfen. Es gab dabei nur ein Problem: Der Regisseur ist der Intendant.

Peter Mussbach, der promovierte Neurologe, wird immer gerne gerufen, wenn es um seelisches Leid geht. An seiner Staatsoper wollte er sich zum Saisonende aber nun einmal unbedingt als Spaßmacher profilieren, kippte mit Blick auf das Einnahmesoll den ursprünglich geplanten „King Lear“ von Aribert Reimann und setzte stattdessen den Franz-Lehár-Klassiker an.

Man braucht nicht gleich die Vermutung anzustellen, beim Konzeptionsgespräch sei ein Joint herumgegangen, doch das Inszenierungsteam steigerte sich in wilde Visionen, befand kurzerhand, Operette sei ein Taumel ohne Sinn und Verstand – und Lehars Libretto-Staat Pontevedro sowieso Absurdistan. Was von den Dialogen in dieser Staatsopern-Fassung übrig geblieben ist, wird darum mit schwerer Zunge gelallt, eine nachvollziehbare Handlung findet nicht statt. Mussbach startet noch nicht einmal den Versuch, den Figuren Charakterprofil zu verleihen. Ersatzweise zappeln ununterbrochen Statisten über die Bühne, müssen die Choristen erst als Froschmänner mit Sauerstoffflaschen, dann als Pinguine aufmarschieren.

Erich Wonders Bühnenbild zeigt nämlich eine arktische Eiswüste, in der ein Flugzeug notgelandet ist. Aus Lautsprechern weht der kalte Wind, doch die Darsteller frieren nur eine Viertelstunde lang – dann scheint Mussbach das Interesse an der Ursprungsidee verloren zu haben, der Ort der Handlung spielt überhaupt keine Rolle mehr, alles, was folgt, könnte ebenso gut in der Wüste oder – horribile dictu – gar am Pariser Originalschauplatz stattfinden.

Das Ärgste aber sind die Kostüme von Andrea Schmidt-Futterer: Selbstverständlich tragen die Vertreter der überkommenen Machtelite schlecht sitzende Anzüge, steingraue Trenchcoats und Hüte, natürlich präsentiert sich das Objekt ihrer Begierde, Hanna Glawari, in rotem Lackleder. Stereotypen, mit denen das Regietheater seit 20 Jahren operiert und die keiner mehr entlarvend findet, außer den Machern selber. Vorhersehbarkeit aber wiegt bei Künstlern, die für sich in Anspruch nehmen, gegenwartsbezogen zu arbeiten, viel schwerer als die ewigen Rüschplüsch-Requisiten des kommerzorientierten Boulevards. Kein Wunder, wenn sich das Publikum, und zwar das konservative wie das fortschrittliche, kollektiv verhöhnt fühlt. Einen Abend, bei dem das Vilja-Lied wegen fortgesetzter wütender Proteste aus dem Saal unterbrochen werden muss, hat es wohl in der Aufführungsgeschichte der „Witwe“ noch nicht gegeben.

Musikalisch funktioniert das Stück nach dem Motto: Überholen Sie ruhig, an der nächsten Generalpause sehen wir uns wieder. Der junge Dirigent Max Renne bekommt die Koordination von Bühne und Orchestergraben bis zuletzt nicht in den Griff, jede Nummer wackelt, beim „Weiber“-Marsch fliegt gleich ein halbes Dutzend routinierter Ensemblesänger aus der Kurve. Vielleicht sollte ein Haus, das ganz oben mitspielen will, kein Greenhorn verpflichten, wo es um Esprit und Eleganz geht, um Witz, der nur aus souveräner Lässigkeit entstehen kann. Und vielleicht ist auch Siegfried Jerusalem nicht die erste Wahl für die männliche Hauptrolle. Grau bezopft, im grotesken Zweireiher mit schlotternden Hosenbeinen, gelingt es ihm spielend, regiegemäß genauso bleichgesichtig und leblos zu wirken wie seine pontevedrinischen Landsleute. Ein Wort über Jerusalems Gesang zu verlieren, verbietet der Respekt vor der Lebensleistung dieses einst so großen Wagnersängers.

Der ebenfalls im dramatischen Fach hochgeschätzten Nadja Michael steht die Partie der Hanna Glawari leider überhaupt nicht. Stephan Rügamer (Rosillon) hat man an der Staatsoper schon sensibler singen gehört, Sylvia Schwartz beharrt in dem ganzen tristen Trubel tapfer auf Soubrettencharme, die übrigen Ensemblemitglieder sind zu Stichwortgebern degradiert.

„Der Heesters“, konstatiert eine Berlinerin aus der 8. Parkettreihe schon nach der ersten Szene, „hätte sich im Grabe umgedreht“ – um sich sofort zu korrigieren: „Ach nee, da liegt der ja noch gar nicht.“

Wieder am 20./23./27./30. Juni sowie 2. und 4. Juli.

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