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Kultur: Wenn inTokio die Zeit stillsteht

Eine Begegnung mit Kazuo Ohno, dem Urvater des Butoh. Zum In-Transit-Festival kommt die japanische Tanzkunst wieder nach Berlin

Es war ein spontanes Rendezvous mit einer weltberühmten japanischen Tanzlegenden, und es zogen Lebensalter vorüber. Es war Historie.

Tokio, im Frühjahr 2004. Ein Theater in einem hochmodernen Wolkenkratzerkomplex. Eine erschütternde Begegnung mit – Geistern?

Ausländische Besucher suchen hier im Allgemeinen etwas anderes: das Hyatt Hotel mit der Sky Bar im 53. Stock. Sie halten – am Originalschauplatz eines berühmten Films ist das wohl unvermeidlich – Ausschau nach Bill Murrays hünenhafter Erscheinung, nach dem traurigen Helden von „Lost in Translation“. In diesem Hotel, in dieser Panorama-Lounge hat Sofia Coppola ihr Kinomärchen von den zwei Kulturen gedreht, die nicht zueinander können.

Die Geschichte, die sich dreißig Stockwerke tiefer im Theaterfoyer abspielt, dreht sich auch um das Verstehen einer fremden Welt – ohne Worte. Was sich da entrollt, an diesem Abend in Tokio, in diesem Butoh-Tanz, stimmt einen zutiefst demütig. Aber es ist eine Demut, die einem großen inneren Aufruhr entspringt. Ja, es springt einen mächtig an: Fünf Saxofonisten marschieren auf und blasen die „Air“ von Bach. Die Melodie breitet sich im Raum aus wie ein tränenheißer Wind. Drei junge Frauen schieben einen Rollstuhl hinein. Darin sitzt, liegt – ein Mensch, eine Mumie?

Aus dem Nichts taucht ein zweiter rätselhafter Körper auf: weiß geschminkt und nackt bis auf den Lendenschurz, blutrote Lippen, mit einer weißen Schleife im zurückgekämmten Haar. Ein androgynes Wesen, ein Engel. Er umtanzt, umschlingt den Alten im Rollstuhl. Kniet vor ihm nieder, wirft den Kopf zurück, als wollte er die Götter anrufen.

Das Spiel der Saxofonisten wird mit jeder melodischen Wendung intensiver. Und der Weiße verstärkt sein Werben um den Unbeweglichen. Zuckt, breitet die Arme aus wie Flügel, greift nach den Händen des Unfassbaren, entfernt sich, um sich noch heftiger in die flehende, verführerische Pose zu werfen, die nicht ohne Ironie ist. Und er erreicht sein Ziel, sein Tanz ist unwiderstehlich. Sorgenvoll von den knienden Mädchen beobachtet, bewegt der schwarz gekleidete Alte den Kopf. Dreht sich nach der Musik, nach diesem Körper, der ihn liebevoll bedrängt. Seine rechte Hand, knochig und von unglaublicher Eleganz, steht plötzlich in der Luft, beginnt zu vibrieren, sie greift nach den weißen Armen. Ein Lächeln formt sich auf dem braunen, fleckigen Gesicht.

Der Moment ist nahe an dem, was Ewigkeit sein könnte. Einige Zuschauer haben sich mit ihren Kameras auf den Boden geworfen und knipsen wie um ihr Leben, weinen vor Freude. Einige klatschen euphorisch. Die meisten stehen da und starren. Dann umarmen sie sich, die beiden Männer. Und der vom Tanz Wiederbelebte wird herausgefahren, winkend.

Kazuo Ohno, der Mann im Rollstuhl, ist einer der Gründer und Großmeister der Butoh-Bewegung. Er ist 96 Jahre alt. Und der weiße Engel, der ihn schier in die Luft hebt, ist Akira Kasai, einer seiner wenigen Schüler. 61 Jahre alt.

Butoh muss man als urjapanische Kunst verstehen, die Wurzeln im Westen hat. In diesem Widerspruch liegt die Spannung der Butoh-Performer, die 1959 zum ersten Mal an die japanische Öffentlichkeit traten. Nackt, schmutzig, chaotisch, wild und brutal, das Stück hieß „Kinijki“ (Verbotene Farben), nach einer Erzählung von Yukio Mishima. Die Geburtsstunde des Butoh war ein gewaltiger Skandal in einem Land, in dem Etikette und der schöne Schein so viel gelten. Butoh-Ästhetik hat etwas von Punk.

Sie protestierten gegen die Verwestlichung der japanischen Kultur nach dem Zweiten Weltkrieg, während der amerikanischen Besatzung. Sie schleuderten das archaische, arme Japan auf die Bühne, und sie beriefen sich dabei auf Artaud, Genet und Bataille. Und auf den deutschen Ausdruckstanz der Zwanzigerjahre, auf Mary Wigman und Harald Kreutzberg. Wie bei so vielen avantgardistischen Bewegungen findet man hier eine Rückbesinnung auf Archetypen. Beim Butoh gibt es eine einzige Regel. Und die besagt: Es gelten keine Regeln in diesem Theater der Körper.

Butoh ist, wie fernöstliche Kampfkunst und Kalligrafie, eine familiäre Angelegenheit. An jenem Abend in den Park Towers von Tokio hatte Akira Kasai mit Kazuos Sohn Yoshiko Ohno eine Premiere. „Auge“, so nennen sie ihr Stück, mit dem japanischen Schriftzeichen, das Kreis und Dreieck einschließt. Yoshiko Ohno, klassisch expressiv, dabei Minimalist und von einer Nobilität bis in die Fingerspitzen; Kasai ein Draufgänger, ein sich verzehrender Entertainer mit dem komischen Feuer einer Drag-Queen. Auch Yoshiko Ohno gehört zu den Butoh-Performern der allerersten Stunde. Er ist 65 Jahre alt. Sie haben an jenem Abend ein Solo-DuoProgramm getanzt, der junge Ohno und der etwas jüngere Akira Kasai. Nach bald vierzig Jahren standen sie zum ersten Mal wieder gemeinsam auf der Bühne.

Butoh-Tänzer sind extreme Solisten, einsame Wölfe. Hierarchie wird streng beachtet. Als man, nach der Premiere von „Auge“, nach dem himmlischen Ehrentanz Kasais für seinen greisen Meister, in der Garderobe mit Yoshiko Ohno und Akira Kasai zusammensitzt, spricht nur einer, der Ältere. Der Sohn des Butoh-Großmeisters Kazuo Ohno: „Damals, als alles begann, waren Hunger, Armut und Krieg die Basis von Butoh. Heute ist die Situation eine völlig andere. Niemand weiß, wohin die japanische Gesellschaft geht. Die jungen Menschen wissen nicht, wie sie leben sollen. Früher waren wir physisch ausgehungert, jetzt leiden wir unter einer spirituellen Armut.“

Von Anfang an war Butoh eine Erinnerungskunst. Bald zwanzig Jahre zurück liegt der Butoh-Boom, der seinerzeit Berlin erfasste. Das Buch „Die Rebellion des Körpers“, das Sumie Kawai und Michael Haerdter 1986 im Alexander Verlag Berlin veröffentlichten, gilt noch heute als Standardwerk über Butoh.

Unvergesslich Kazuo Ohnos Auftritt damals in der Akademie der Künste. Er brachte die Luft zum Zittern. Und da schon spürte man, dass Vergänglichkeit etwas ungeheuer Schönes und Würdevolles sein kann. Ende siebzig war Kazuo Ohno damals, er präsentierte das Stück, das ihn im Westen berühmt gemacht hat: „Admiring La Argentina“. Auch das eine schmerzhafte, glühende Erinnerung: an eine lateinamerikanische Tänzerin, die Kazuo Ohno 1929 im Kaiserlichen Theater von Tokio wie eine Initiation erlebt hat. Und hat nicht auch Akira Kasai in seiner Improvisation mit den fünf Saxofonisten und Bachs „Air“ das Bild seines tanzenden Meisters heraufbeschworen, so wie jener bis in das hohe Alter „La Argentina“ weiterleben ließ?

Butoh kehrt nach Berlin zurück. Akira Kasai tritt kommende Woche im Haus der Kulturen der Welt, beim Festival In-Transit auf. Und in der Ifa-Galerie wird eine Butoh-Ausstellung eröffnet, „Tanz der Dunkelheit“, in deren Mittelpunkt der 1986 verstorbene Tatsumi Hijikata steht. Er und Kazuo Ohno waren die beiden Urväter der Butoh-Bewegung.

Butoh kehrt wieder, und ein Tropfen Wehmut mischt sich in die Freude. Denn Kasai kommt allein. Mit einem Solo mit dem wunderschönen Titel „Handsome Blue Sky“. Yoshiko Ohno kommt nicht: er, der einst als schöner Jüngling bei der Geburt des Butoh auf der Bühne stand und mit einem Huhn sodomitische Handlungen ausführte, ehe er das Tier tötete, und von Tatsumi Hijikata, dem älteren Mann, sexuell umworben wurde.

Das „Auge“ wollten die beiden Butoh-Söhne, inzwischen selbst im großväterlichen Alter, in Berlin zeigen. Doch Ohno lässt seinen 96-jährigen Vater in Tokio nicht allein. Yoshiko, der 65-Jährige, lebt seit seinem zwölften Lebensjahr mit seinem Vater zusammen. Seit fünfzig Jahren ist er auch sein Schüler. Nur in den Jahren, als der Vater im Krieg war, waren sie getrennt.

Butoh-Tänzer sieht man oft in kauernder oder hockender Haltung, nach innen gewendet, schmerzhaft verkrümmt: Darin drückt sich die Sehnsucht nach der Erde aus, nach dem Schlamm, dem Mutterleib. Sie folgen dem Vater, und sie suchen die Mutter.

Als Akira Kasai, der weiße Bote aus dem Diesseits, seinen uralten Lehrer Kazuo Ohno im Tokioter Theaterfoyer umtanzt und umwirbt, steht die Zeit still. Es mag eine ketzerische, westlich-dekadente Assoziation sein, in dem Moment an die tote Mutter im Rollstuhl in Hitchcocks „Psycho“ zu denken. Aber hier ist ein greiser Vater, der zugleich die tröstliche Autorität einer Mutter angenommen hat. Kein Ballast, kein Horror-Artefakt. Er lebt, unsterblich sterblich.

Die unglaubliche Energie, die Akira Kasai ausstrahlt, scheint in Wahrheit von Ohno zu kommen. „Der Augenblick äußerster Müdigkeit, wenn eine extreme Anstrengung den Körper wieder aufrichtet, das ist der wahre Ursprung des Butoh“, so hat es Kazuo Ohno selbst einmal gesagt. „Die Toten beginnen zu laufen.“

„Der dritte Körper“, so lautet das Motto des Performance-Festivals In Transit (bis 13. Juni). Es wird am 2. Juni im Berliner Haus der Kulturen der Welt mit „Samarkand“ von und mit Wole Soyinka , dem nigerianischen Literaturnobelpreisträger, eröffnet. Akira Kasai (Foto) tritt am 3. Juni auf. „Underground“ (nach dem Buch von Haruki Murakami über die Giftgasanschläge in der Tokioter Metro) wird am 5. Juni im U-Bahnhof am Kanzleramt uraufgeführt.

Außerdem im Programm: Gruppen aus Brasilien, Kanada, Indonesien, China. Der deutsche Regisseur Armin Petras inszeniert seinen Text „Mach die Augen zu und fliege“.

Rüdiger Schaper

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