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Kultur: Wer bin ich und wenn ja wie viele? - Die Niederländerin und ihr Double in der Galerie Arndt & Partner

Die Frau auf der Fensterbank neben dem Eingang fällt nicht sonderlich auf. Man geht vorbei - und hat die Kunst schon übersehen.

Die Frau auf der Fensterbank neben dem Eingang fällt nicht sonderlich auf. Man geht vorbei - und hat die Kunst schon übersehen. Denn die Gestalt im Mantel, die das "Ne me quitte pas" aus dem Radio neben sich mitzusummen scheint, ist eine Puppe. Physiognomie und Händen sind täuschend echt ihrem lebenden Vorbild nachgebildet: der Künstlerin Mathilde ter Heijne.

Hatte sich die 1969 geborene niederländische Künstlerin bisher nur mit den Zuschreibungen oder dem Verlust von Identität bei Kriegsflüchtling oder Migranten befasst, geht es ihr nun um das eigene Selbst und die Rolle der Fremden. Seit die Niederländerin 1998 ein Stipendium für das Künstlerhaus Bethanien erhielt und in Berlin lebt, kann sie die Erfahrung als Ausländerin am eigenen Leibe spüren.

Doch der Auslöser für die Befragung der eigenen Identität war der Film. Plötzlich begegneten Mathilde ter Heijne lauter französische Filme, in denen eine Protagonistin namens Mathilde aus unglücklicher Liebe zu einem älteren Mann am Ende Selbstmord begeht. Zufall, schicksalhafte Botschaft, Wahnidee? Sollten sich die Regisseure Truffaut, Patrick Lecontes und Jean-Claude Brisseau abgesprochen haben? Sollte die Häufung der Zufälle eine tiefere Bedeutung haben? Wie um sich dem Bann dieser Filme zu entziehen, kam Mathilde ter Heijne zu einer Lösung, die anmutet wie ein exorzistischer Zauber: Die Künstlerin verfilmte die Todesarten der Kinofigur Mathilde noch einmal. Im Studio Babelsberg entstand ein Double, jene Puppe auf der Fensterbank, das ausersehen war, erschossen und ertränkt zu werden. Ein Kameramann hielt jeweils die letzten Sekunden der Todgeweihten fest. Aber nach den Dreharbeiten entschied sich die Künstlerin nicht für das illusionäre Filmspiel, sondern zeigt in der Ausstellung die Sequenzen, die die filmische Illusion gerade zerstören: Statt einer Todesszene, bringt "Mathilde, Mathilde...", so der Titel ihres Videos (VHS 1500 Mark), den Kampf der Künstlerin mit der Puppe, um ihr künstliches alter ego einigermaßen mühsam über die Brüstung in den Fluß zu befördern. Der Todessprung findet nur in effigies statt.

Ist damit die Macht der Medienbilder gebrochen? In den über 60 Postern, die wie im Laden in einem Blättersystem an der Wand montiert sind (7500 Mark), fehlen die Protagonisten. Mathilde ter Heijne hat sie ganz einfach aus den Bildern ausgeschnitten. Nur ihr Umriss ist erhalten geblieben und der sie umgebende Horror. Denn die reproduzierten Zeitschriftenbilder zeigen die kriegerischen Grausamkeiten auf unserem Planeten: Flüchtlingselend in Ruanda, Bombenangriff in Dagistan, Massengräber in Bosnien: Überall sind die Opfer unsichtbar geworden, ihre Individualität aufgehoben. Nur ihr anonymes Schicksal bleibt kenntlich. Mathilde ter Heijnes Poster sind der Versuch, die Opfer aus ihrer fixierten Rolle zu befreien, die von der Presse noch einmal befestigt wird. Sie konterkariert deshalb mit der künstlerischen Form den journalistischen Inhalt. Die Sensation der Gewaltbilder wird ebenso durchkreuzt, wie die Möglichkeit des Mitleids, das von die Ursachen der Greuel ablenkt. Wie man bei Mathilde ter Heijne sieht, kann die Absage an Identität unter Umständen befreiend wirken. Identitätszuschreibungen von anderen sind die eigentliche Gefahr: Sie machen uns zu Opfern.Galerie Arndt & Partner, Auguststraße 35, bis 3. Juni; Dienstag bis Sonnabend 12-18 Uhr

Ronald Berg

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