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Kultur: Wer gleitet so spät

Volker Hesse seziert „Das weite Land“ von Arthur Schnitzler am Maxim Gorki Theater Berlin

Es gibt kein Leben, nur die heftige Hingabe an Begierden im fiebrigen Wechsel von hochschießender und verdämmernder Leidenschaft. Es führt kein Weg zum Glück, Langeweile und Überdruss bleiben bei allen erotischen Abenteuern Sieger. In seiner Tragikomödie „Das weite Land“ bringt Arthur Schnitzler Männer und Frauen auf die Bühne, für die die Liebe, oder das, was sie für Liebe halten, bloß Spielmaterial ist: reizvoll-gefährliche Abwechslung in einem Dasein, dessen innere Leere trotz hoher Bildung, untadeliger Erziehung und erlesenen Geschmacks nicht ausfüllbar ist. Eine bürgerlich-adlige Gesellschaft, zumeist noch jüngeren Alters, kann den eigenen Ansprüchen nicht genügen. Es bleibt den Fabrikanten, Unternehmern, Offizieren, Ärzten, Ehefrauen und jungen Mädchen nur der Weg in den Verzicht, die Verkümmerung; „man gleitet, man gleitet immer weiter, wer weiß wohin.“

Volker Hesse, scheidender Intendant des Berliner Maxim Gorki Theaters, zeigt, wie nah hier grelle, ja brutale Komik liegt. Er kratzt den Lack von der glänzenden Oberfläche der beherrschten Konversation. Rüde Bewegtheit, Schreie brechen in die artigen Szenerien von Nachbarschaftsbesuch, Teegespräch und Tennisspiel, wildes Rennen setzt ein, verschlungene, erregte Tänze fegen über die Bühne, Gesten gefrieren in studierter Ekstase. Wilde Fluchten oder statuenhaftes Verharren auf einem Punkt offenbaren eine Verwirrung der Gefühle, gegen die es kein Mittel gibt.

Marina Hellmann hat für diesen Sturm der künstlichen Leidenschaften eine Bühne gebaut, die das Bild der im Verfall befindlichen Gesellschaft zurückwirft, verdoppelt, märchenhaft deutlich und zugleich auch unwirklich macht. Bis in den Zuschauerraum vorgezogen ist ein breit ausladendes Podest, das in einem Spiegel endet. Die Figuren bewegen sich in verschiedenen Ordnungen zwischen Hintergrund und Vordergrund, sie versuchen, ihre Geheimnisse in der Unbegrenztheit des Raums zu verstecken und müssen sie dann doch offenbaren, doppelt entblößt in der schutzlosen Leere.

Beherrschend Alexander Lang als Fabrikant Friedrich Hofreiter: Er räumt der Figur viele Möglichkeiten ein. Ein amüsierter Beobachter? Ein kalter Teufel? Ein von finsteren Lüsten Getriebener? Die Klammer für das Widerstreitende, zeigt Lang, ist die Neugier eines Experimentators. Wie verhalten sich Menschen im Liebesrausch? Dieser Hofreiter beobachtet nicht nur, er macht einen Selbstversuch, amüsiert, heftig, zynisch.

Rosa Enskat dagegen zwingt die Fabrikantengattin Genia in eine verstörende Ruhe. Sie zeigt die Frau, von der alles ausgeht, zu der alles hinführt, in äußerster Beherrschtheit. Der Kampf gegen Demütigung aber, so macht die Schauspielerin deutlich, ist verloren. In das andere Extrem treibt Anya Fischer das junge Mädchen Erna, vorläufig letzte Beute des Fabrikanten Hofreiter. Auf die Bühne kommt ein quirliges junges Ding, behänd und frech, mit einer ungestümen Lebenslust, die gewaltsam übersteigert ist und schon Krankhaftes in sich birgt.

Nicht alle Rollen gelingen im figurenreichen Ensemble mit gleicher Intensität. Im Wirbel der Gelüste und Sehnsüchte behauptet sich Ruth Reinecke – der Schauspielerin Meinhold-Aigner verleiht sie Würde, Festigkeit, Lebenserfahrung. Und macht offenbar, dass die zum Schluss am bittersten Betrogene die einzige wirklich Freie ist.

Wieder am 6., 12. und 25. November.

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