Kultur: Wer hat uns den Tod gestohlen?
Verse auf einen syrischen Märtyrer, den 13-jährigen Hamza al-Khatib / Von Hala Mohammad.
Die Krankenschwester, die im Fernsehen auf dein Foto zeigte
während der Gerichtsmediziner
seinen Bericht verlas,
für die warst du nie Sohn.
Ihre Fingernägel, rot lackiert und spitz
kostete es Überwindung, dein Foto
anzufassen
als könnte dessen Blut ihre Maniküre ruinieren
als ekelte sie sich vor unserem Tod
als fürchtete sie sich vor unserem Blut
oh Hamza.
In den Nachrichten erklärte der Gerichtsmediziner, eine Verkettung schicksalhafter Umstände habe zu deinem Tod geführt
Man habe ihn dir gar nicht abgeschnitten, den Strang deiner Männlichkeit
dein Bindeglied zu den Wonnen und Genüssen, oh du mein Fleisch und Blut
den Zugang zu deinem Mannesalter ...
den Entfacher deiner Freuden
Dir in deinem dreizehnten Jahr
in deinem Frühling.
Der Arzt ...
sprach von dir als handle es sich um eine Lehrstunde in Anatomie
„Dieser Rumpf“, sagte er.
„Dieser Brustkorb“, sagte er.
„Diese Augen“, sagte er.
Und zeigte mit dem Messstab auf dich,
dieser Arzt.
Der ignorierte deinen Namen.
„Er“, sagte er.
Der ignorierte dein Mona-Lisa-Lächeln,
welches er nur in Quadratzentimetern anzugeben wüsste.
Hattest du Angst...
Oder bist du schon vor Angst gestorben, noch bevor die Angst richtig da war?
Ich will es hoffen, mein Kleiner.
Die Krankenschwester
Die hat dir nicht mit ihren Fingerspitzen die Augen liebkost
oder deine Wangen geküsst, während du schliefst
und ich dich mit meinen Segenswünschen zudeckte.
Die kennt nicht den Sturm in mir bei jedem Kuss auf dein schwarzes Haar...
noch hat sie erlebt, wie dein Vater dir „Allahu akbar“ ins Ohr geflüstert hat
am Tag deiner Geburt ...
Für die warst du nie Sohn, oh mein Junge.
Bei einem Massaker dein Leben zu
lassen
das ist nicht dein Tod ...
das ist: der Tod.
Wir wollen unseren Tod ...
unseren individuellen Tod, Mensch für Mensch.
Wer hat uns den Tod unter dem Kopfkissen hinweggestohlen?
Unter unseren Füßen
hinweggezogen ...
Wer hat den Tod gestohlen?
Wer hat den Krankenhäusern den Tod weggenommen?
... den Verkehrsunfällen?
... der Altersschwäche?
... dem Zufall?
... der Trauer?
... dem Treppensturz?
... dem Ertrinken?
... dem Selbstmord aus Liebe?
... der langen Trennung?
... dem Verschwinden?
... dem Fremdsein?
... der Freude?
Dieser Tod ...
Massaker für Massaker
das ist nicht unser Tod ...
das ist er nicht, der Tod.
...
Wir wollen unseren Tod
Mensch ...
für Mensch
für Mensch
für Mensch.
...
Träne ...
für Träne
für Träne
für Träne.
Es ist nicht die Zeit für duftende
Grabgewächse
Die Gräber
sie wirken provisorisch.
Dieser Tod ist nicht unser Tod.
Warme Körper
lachend
hitzig
frei
als würden sie noch leben
als stürben sie nicht.
Der Tyrann
kämpft Grab für Grab gegen den
Tod an
Aufbrauchen will er sie, die
Grabstätten
auf dass für ihn
kein einziges Grab mehr übrig bleibe.
Aus dem Arabischen von Rafael Sanchez