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Kultur: Wer hoch steigt, muss tief stürzen

Heroische Menschen, sprechende Körper : Hendrick Goltzius in der Hamburger Kunsthalle

Von Christian Schröder

Der Aufstieg der Moderne begann mit einer spektakulären Folge von Abstürzen. Ikarus wollte zu hoch hinaus und fiel ins Meer, als die Sonne das Wachs an seinen Flügeln geschmolzen hatte. Phaeton verlor die Kontrolle über den ihm anvertrauten Sonnenwagen und wurde von einem Donnerkeil des zornentbrannten Zeus getroffen. Tantalus und Ixion ließen die Götter in die Hölle hinabstoßen, wo sie ewige Qualen zu erleiden hatten. Vier Himmelsstürmer: Sie taumeln durch die Lüfte. Ikarus und Phaeton rudern hilflos mit Armen und Beinen, wie groteske Fußballspieler beim Fallrückzieher sehen sie aus. Tantalus hat in einer letzten sinnlosen Erregung jeden Muskel seines massigen Körpers angespannt, Ixion schreit entsetzt auf. So hat Hendrick Goltzius die mystischen Aufbegehrer 1588 ins Bild gerückt: Als warnende Exempel von Menschen, die es mit den Mächten des Himmels aufzunehmen versuchen und ins Bodenlose fallen.

Mythische Männer als Kraftpakete

„Wissen ist Gottes Gabe, göttlich ist es erkennen zu wollen, doch ziemt es sich, sich innerhalb seiner Grenzen zu halten“, menetekelt ein lateinischer Sinnspruch auf dem Ikarus-Blatt. Goltzius hat die kreisrunden Kupferstiche mit den Himmelsstürmern nach Entwürfen des Malers Cornelis van Haarlem gestochen. Um die umlaufenden Inschriften studieren zu können, hat der zeitgenössische Betrachter die Blätter auf einen Tisch gelegt und dann um die eigene Achse gedreht. Diese Kunst will von oben angeschaut werden, und das Drehmoment sorgt dafür, dass die Schwindelgefühle der Protagonisten auch auf den Zuschauer überspringen.

Im Kuppelsaal der Hamburger Kunsthalle hängen die Helden des Absturzes nun an der Wand, zusammen mit rund 90 weiteren Blättern, mit denen der Haarlemer Kupferstecher, Zeichner, Verleger und Maler zum ersten Mal in einer großen Ausstellung in Deutschland gefeiert wird. Goltzius (1558-1617) war selber ein Himmelsstürmer. Selbstbewusst trat er gegen das Vorurteil an, niederländische Künstler könnten – anders als ihre italienischen Kollegen – keine Figuren zeichnen und stellte das Menschenbild in den Mittelpunkt seiner Arbeit. Das Interesse, das die Renaissance für die Anatomie entwickelt hatte, versucht er noch zu übertrumpfen. Goltzius zeigt seine Körper am liebsten in monumentaler Größe und in spektakulärer Untersicht. Sein „Großer Herkules“ (1589) füllt breitbeinig und mit geschulterter Keule ein Bild, das 40 Zentimeter breit und fast 60 Zentimeter hoch ist. Vor Kraft kann dieser Koloss buchstäblich nicht laufen, sämtliche Muskelgruppen sind gestrafft, die blutgefüllten Adern treten aus der Haut hervor. „Knollenmänner“ hat man Goltzius´ Fleischpakete genannt und lange gestritten, ob sie eher als Karikaturen oder als Idealbilder zu verstehen seien. Wer will, kann im Herkules auch eine Personifikation der um ihre Unabhängigkeit ringenden niederländischen Republik erkennen. Unübersehbar ist die technische Virtuosität. Kreuzschraffuren und Weißflächen lassen den antiken Helden scheinbar plastisch aus dem Bild hervortreten. Bei anderen Bildern, etwa dem tänzerisch bewegten „Fahnenschwinger“ (1587) ist der Oberflächenglanz so perfekt wiedergegeben, dass man tatsächlich glaubt, Samt und Seide vor Augen zu haben.

Hendrick Goltzius wurde in Mühlbracht bei Venlo geboren. Mit seinem Lehrer, dem Theologen, Humanisten und Kupferstecher Dirck Volckertsz. Coornhert ging er nach Haarlem, das dabei war, sich nach der Eroberung Antwerpens durch die Spanier zur führenden Verlagsmetropole Nordeuropas zu entwickeln. Dem Lehrer hat Goltzius mit seinem vielleicht schönsten Porträtstich ein Denkmal gesetzt. Es zeigt einen bärtigen Mann mit durchdringendem Blick, selbst Tränensäcke und Warzen sind hyperrealistisch wiedergegeben. Anfangs arbeitet Goltzius als Stecher für fremde Verlage, 1582 macht er sich selbstständig. „Eer boven Golt“, lautet sein Motto, Ehre über Gold, aber als Ausdruck mangelnden Geschäftssinns darf man diese Devise nicht missverstehen. Mit einer Handvoll Mitarbeiter baut der Künstler-Unternehmer eine regelrechte Bilderfabrik auf, die Vorlagen bezieht er aus ganz Europa, den Vertrieb seiner Drucke wickelt er über eigene Vertreter auf den großen Messen in Frankfurt, Paris oder London ab.

Einen entscheidenden Anstoß bekommt Goltzius’ Karriere durch seine Freundschaft mit dem Maler und Kunstbiographen Karel van Mander (1548-1606). Van Mander vermittelt einen Kontakt zum Hof Kaiser Rudolf II. in Prag, an dem der Manierismus überwintert hat und nun seine schrillsten und buntesten Blüten treibt. Fortan reproduziert Goltzius Vorlagen des kaiserlichen Lieblingsmalers Bartholomäus Spranger (1546-1611) und avanciert zu einer Art externem Mitglied des Rudolfinischen Künstlerkreises. Seine „Hochzeit von Amor und Psyche“ (1587), nach einer Zeichnung Sprangers auf drei Kupferplatten gestochen, wird zu einem Triumph des Monumentalismus: Auf einer Breite von fast einem Meter drängen sich siebzig Figuren zu einer Choreographie aus zerdehnten, geschraubten, übereinandergetürmten Leibern. Den Horror vacui, das exzentrische Körperbild und die schwülstige Erotik behält Goltzius auch bei späteren Kompositionen bei, mit denen er sich immer tiefer in die Vorratskammer der antiken Mythen hineinbegibt: „Mars und Venus“, „Herkules und Cacus“, „Das Midasurteil“.

Die Antike als Heilanstalt

Glaubt man van Mander, brach bei Goltzius ausgerechnet in dem Moment, als er den ersten Höhepunkt seines Erfolgs erreicht hat, eine seltsame Krankheit aus, die ihn melancholisch machte und Blut spucken ließ. „Die Ärzte taten, was sie konnten, um ihm zu helfen, doch war alles vergeblich, da diese Schwermut zu tief in seinem Herzen Wurzel gefaßt hatte“, schreibt der Biograph in seinem „Schilder-Boeck“. „Als er nun sah, daß sein Leben, wie man sagt, an einem seidenen Faden hing, faßte er schließlich den Entschluß, nach Italien zu reisen, wo er Besserung seines Zustandes erwartete oder doch wenigstens die Schönheit der italienischen Kunst vor seinem Tod zu sehen hoffte.“ Die zehnmonatige Italien-Reise, die den Künstler 1590/91 über Verona, Florenz und Bologna nach Rom und Neapel führt, wird zu einem Wendepunkt. Die Begegnung mit der Kunst der Antike und dem Barock erweist sich als äußerst heilsam, die Krankheit, von der Goltzius gesundet, ist der Manierismus. Mit geradezu enzyklopädischen Eifer macht sich der Künstler daran, die berühmtesten antiken Skupturen Roms zu zeichnen. Am Ende muss er über 100 Blätter mit nach Hause gebracht haben, 43 davon haben sich als „Römisches Portfolio“ im Teylers Museum in Haarlem erhalten. Doch Goltzius’ Plan, die Zeichnungen in eine umfangreiche Folge von Kupferstichen umzusetzen, ist nie über das Anfangsstadium hinausgekommen. Nur drei Stiche werden nach seinem Tod veröffentlicht, der eindrucksvollste zeigt den Herkules Farnese. Man sieht die Helden-Statue in einer Rückenansicht und daneben zwei nordeuropäische Touristen, die staunend zu diesem archäologischen Wunder aufblicken.

„Die Masken der Schönheit“, so lautet der Titel der Hamburger Ausstellung. Goltzius war ein begnadeter Aneigner, in den Stil eines anderen Künstlers konnte er hineinschlüpfen wie in einen gut geschnittenen Anzug. Im 19. Jahrhundert hat man seine Kunst verachtet, weil sie auf einer „falsch verstandenen Nachahmung Michelangelos“ beruhe, heute wirkt sie wie eine Vorwegnahme postmoderner Strategien. Mit seinen 1593/94 entstandenen „Meisterstichen“ trieb Goltzius die Imitationslust nach Vorbildern von Raffael, Lucas van Leyden und Barocci bis zur Persiflage. Die „Beschneidung Christi“ wurde tatsächlich für eine bislang unbekannte Arbeit Dürers gehalten. Dabei taucht Goltzius höchstpersönlich auf dem Bild auf, als Selbstporträt im Hintergrund. Nach 1600 hat der Künstler sich vom Kupferstich abgewandt, um sich – mit bescheidenen Ergebnissen – ausschließlich der Malerei widmen zu können. Seine letzte Graphik zeigt die „Anbetung der Hirten“. Die Köpfe von Maria und den Hirten sind vollplastisch ausgearbeitet, aber das Jesuskind liegt nur als Umrisszeichnung in seiner Wiege.

Hamburger Kunsthalle, bis 29. September. Der Katalog kostet 20 Euro.

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