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Kultur: Wer ist der Halbblutprinz?

Das Internet als Lesezirkel: Wie Joanne K. Rowling zwei Parallelwelten kurzschließt

Von Caroline Fetscher

Papst Benedikt warnte vor dem Antichrist. In den USA sollen religiöse Fanatiker den neuen Potter-Band bereits verbrannt haben. Amazon hat 150000 vorbestellte Exemplare nach Deutschland ausgeliefert, weltweit verkaufte sich das englische Original einige Millionen Male. Und die Buchhändler summen vergnügt beim Anblick der Schlange stehenden jugendlichen und post-jugendlichen Leser. Während die ersten vier Kapitel schon jetzt (kostenpflichtig) von einer amerikanischen Website heruntergeladen werden können, verhandeln die Fans das Gelesene im Cyberspace, von Kanada bis Japan.

„Wer ist der Halbblutprinz?“, fragt ein Potter-Chatter. „Dumbledore“, schreibt einer rasch zurück, mit der Kurzangebundenheit, die sonst nur Manager an den Tag legen, als Nachweis dessen, dass sie Besseres zu tun haben. Auffallend viele der Cyber-Potter-Fans verfügen übrigens über etwas korrektere Rechtschreibung als die Netzplauderer beim Chat über andere Themen wie Ausländer, Hartz IV, Filme, Prominente, Politiker, Jobsuche oder Familienärger. Auch haben die Potter-Leute ein recht robustes Selbstbewusstsein. „Schabumbi“ und sein Chatfreund offenbaren zum Beispiel im Fall Potter versus Papst ein lockeres Verhältnis zum Vatikan: „ich bin total deiner meinung. manchmal find ich die kirche echt daneben.“

Indes verdient die einst arbeitslose Lehrerin Joanne K. Rowling pro Geschäftsjahr mehr an Tantiemen, als Großbritanniens Queen an Apanage einstreichen darf. Rowling hat ja auch eine Weltrevolution in Sachen Gut und Böse angezettelt. In ihrer Potter-Schule gibt es Revolten gegen repressive Regime und ein Kaleidoskop an Charakteren, die sich mühelos in feine und fiese Vertreter aufteilen lassen. Millionen Lesender saugen die Abenteuer des Zauberschülers Potter in sich auf. In den nichtanglophonen Ländern lernen sie auf diese Weise Englisch und wälzen die Wörterbücher, um dabei zu sein, noch ehe die Übersetzungen erscheinen.

Woher der Wahn? Auf dem Weg vom Mythos zum Logos – und gleich wieder zurück – stürzen sich die Erwachsenen von morgen, die Lehrer, Banker und Werbegrafiker der Zukunft, Angestellten und Zahnärzte, Versicherungsvertreter, Kindergärtnerinnen und Stewardessen mit solcher Gier und Geschwindigkeit auf die Zauberzeilen, als gelte es, eine entrinnende Kindheit aufzuhalten. Wo der Nachrichtenkosmos die Unschuld der Welt verloren zu geben scheint, wirkt vermutlich nichts attraktiver als ein Wille und ein Weg, das magische Kraftfeld der Kindheit zu beschwören, einen alternativen Kosmos, in dem die Dinge sich zum Guten wenden können. Dabei mutiert das Lesen wie das Fernsehen zum Kollektiverlebnis, ganz im Gegensatz zur einsamen Lektüre, dem klassisch bürgerlichen Leseerlebnis der Individuation.

Lesen wird zur Gruppenbildung. Also koppeln Hunderttausende ihre Affinität zur gedruckten Parallelwelt mit einer weiteren, dem Cyberspace. Auf der Suche nach der Steigerung des Leseerlebnisses treibt sie der Drang nach Vergewisserung durch Gleichgesinnte. Wo es so zugeht, sind Kritiker rar. Im Gestus ihrer Abgrenzung sind diese wenigen Potter-Abtrünnigen im Netz jedoch umso heftiger. „Diese Frau hat euch zu Junkies einer lächerlich flachen Geschichte gemacht“, kühlt ein Experte den erhitzten Chatroom ab. „Rowling verarscht euch und heimst Geld ein, bis der Arzt kommt. Es ist eine Schande. Ach übrigens, ich bin Buchhändler, und weiß, wovon ich rede, denn ich verarsche euch mit. Muss ich leider.“

Auch „Psygoa2000“ äußert herablassend ihre private Diagnose im Chor der Cyberstimmen. „Psygoa2000“ findet: „Rowling ist ein Kontrollfreak mit größenwahnsinnigen Ansprüchen. Sie frisst die Welt, die sie erzeugt.“ Das Schillernde an dieser Passage ist deren zweideutige Grammatik. Wer hat hier eigentlich wen erzeugt?

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