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Kultur: Wer liest, darf

Man ist ja so dankbar für Stereotypen..

Man ist ja so dankbar für Stereotypen...Man ist ja so dankbar für Stereotypen.Wo wir jetzt immer hören und lesen, das wahre Pariser Leben spiele sich in den Vororten ab oder die französische Literatur der Zukunft werde aus dem francophonen Afrika kommen, atmen wir förmlich auf, wenn wir feststellen, daß es sie noch gibt: die klassische französische Kultur, Eigenschaften, die wir seit Jahrhunderten als französisch anzusehen gewohnt sind.Als da wäre, beispielsweise, der berühmte sens critique - auf deutsch meist unter dem 68er-Label "kritisches Bewußtsein" zu haben.Sens critique, also jene spontane, ungeschützte, gern auch polemische Äußerung, wie sie nur jener Selbstdenker hervorbringt, der nicht erst bei Foucault, Derrida, Lacan oder Sollers nachschlägt, bevor er sich zu Wort meldet, oder sonstige Verbindlichkeiten berücksichtigt - er ist, wer wollte es leugnen, selten geworden, vor allem unter den meinungsmachendenden Profis der großen Zeitungen.Die französische Literaturkritik, man darf es ruhig einmal aussprechen, verdient ihren Namen nur noch selten, seit sie zum Lobekartell verkam.Doch wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.Es scheint in Frankreich ein solcher Tiefpunkt erreicht zu sein, daß das Blatt sich zu wenden beginnt.Eine neue Form der literarischen Kurzkritik ist im Entstehen.Sie hat ihr Forum in den Buchhandlungen, aber auch schon im Internet und in lokalen Fernsehsendern.Ihre Protagonisten sind Leute, die in Deutschland auch umworben und als Kritiker - sagen wir freundlich: gebraucht - werden, von den Verlagen allerdings.Die Buchhändler.In Frankreich hingegen empfinden sie sich vor allem als Anwälte des Publikums und erweitern ihr angestammtes Terrain - die Beratung - durch schriftlich fixierte kritische Statements.Schneidet man sich als Geschäftsmann durch den Aufkleber "Das lohnt nicht das Schwarze unter dem Nagel, stinkt vor Prätention" (auf den "Lichtjahren" von James Salter, hierzulande hymnisch gefeiert - von der professionellen Kritik) ins eigene Fleisch? Mitnichten.Erstens, so wird einem erklärt, provoziert jeder Verriß auch Neugier, zweitens wachse die Glaubwürdigkeit des Buchhändler-Kritikers, wenn er sich als Mensch zu erkennen gibt, dessen Antwort ja-ja, nein-nein sei, denn uneingeschränkte Empfehlungen (wie "Das Buch ist ein reines Wunder" für den neuen Roman von Mario Soldati) oder eingeschränkte ("Für fortgeschrittenes Publikum.Viel Erfolg!" im Hinblick auf den neuen Eco) spreche man schließlich gleichfalls aus.Unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen des neuen Rollenspiels, das dem einen oder anderen Buchhändler, wie man hört, wachsende Verkaufszahlen von bis zu 15 Prozent beschert, ist natürlich, daß Kunde und Verkäufer sich kennen, miteinander reden, sich vertrauen.So sind es auch eher die Läden in kleinen Städten oder gutsortierte Spezialbuchhandlungen in den besseren Pariser Vierteln, die zur Gegen-Kritik blasen.Aus der Branche selbst kommt nicht nur Zustimmung."Wer sind sie, daß sie so runtermachen", höre man nicht selten.Das erinnert den deutschen Gast natürlich an das "Darf der das?", jene National-Hymne der Ängstlichen, die einem hierzulande dauernd entgegenschallt.Die Antwort müßte - diesseits wie jenseits des Rheins - lauten: Wer liest, darf alles.Aber nur der! Und nur im Umgang mit Büchern.Und was heißt lesen? Kein Tag ohne mindestens ein Buch. TK

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