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Teamgeist. Alain Resnais stellte in Cannes gerade sein jüngstes Werk vor. Foto: dpa

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Kultur: Wer lügt, der liebt

Dem Filmregisseur Alain Resnais zum 90.

Sabine Azéma, die mit flatternden Neurosen über die Leinwand huscht und „Résiste“ schmettert, mit der Stimme von France Gall. Pierre Arditti, der unentwegt konsterniert schaut. André Dussolier, der zur falschen Zeit am falschen Ort die Liebe sucht. Délphine Seyrig, die durch die mondänen Hotels von Marienbad geistert. Und Emmanuelle Riva, die mit ihrem japanischen Liebhaber die Katastrophe von Hiroshima nachträumt. Von Anfang an hat Alain Resnais in seinen Filmen das Glück beschworen – und die Bilder in seinen frühen Filmen „Hiroshima, mon Amour“ (1959) und „Letztes Jahr in Marienbad“ (1961) gleichzeitig mit der Musik des Todes grundiert, der Gewalt, die Menschen einander antun können. Später nahm er vor allem die Vergeblichkeiten des Erdendaseins in Augenschein, in der Ayckbourn-Verfilmung „Smoking/No Smoking“ (1993), dem Pariser Alltagsreigen „Das Leben ist ein Chanson“ (1997) oder der Liebeskomödie „Herzen“.

Alain Resnais ist der weiseste unter Frankreichs Nouvelle-Vague-Regisseuren, ein augenzwinkernder Menschenkenner, der mit zunehmendem Alter immer mehr Ballast abwirft, ohne je banal zu werden. Kaum zu glauben, dass der gleiche Mann, dessen KZ-Dokumentarfilm „Nacht und Nebel“ 1955 in Cannes für schwere diplomatische Verwicklungen zwischen Frankreich und Deutschland sorgte, in „Das Leben ist ein Chanson“ eine riesige Qualle mit feinen Schleierfäden durch eine Party schweben lässt. Ausgerechnet ein politisch und künstlerisch derart kompromissloser Regisseur hat dem Kino diese elegante Traumtänzerin geschenkt, die sich um die Unwahrscheinlichkeit ihrer Existenz nicht schert.

Die Freiheit macht ihm so schnell keiner nach. Die Freiheit, mit der er in „Hiroshima, mon amour“ die Körper der Liebenden zeigt, ihre zarte Haut, und in der nächsten Einstellung die verstrahlten, entstellten Leiber der Atombombenopfer. Die Freiheit, mit der er die Poesie der Sprache erkundet, von Marguerite Duras, Alain Robbe-Grillet oder Alan Ayckbourn, und die Bilder doch nie aufs Illustrative reduziert. Und die Freiheit, mit der er die Kamera durch den Raum der Imagination schweben lässt. Schneeflockenleicht ist die Melancholie seiner Filme, das Ensemble seiner Menschenkindsköpfe, das von der getreuen Darstellerriege rund um seine Gefährtin Azéma verkörpert wird. Immer wieder verfangen sie sich in Gespinsten aus Liebe und Lüge, aus Sehnsucht und Schmerz, machen eine mysteriöse Figur dazu – oder eine komische.

Resnais, Apothekersohn aus Vannes, nahm Schauspielunterricht in Paris, ließ sich als Cutter ausbilden und experimentierte mit Kurzfilmen, bevor er sich zunächst dem Dokumentarischen zuwandte. Ein Magier, der schier unvereinbare Gegensätze vermählt, den Strukturalismus mit der Unterhaltungskunst, die Politik mit der Poesie, das Pathos mit der Posse, die natürliche Anmut mit der radikalen Künstlichkeit. Seine Theater- und Pappmaché-Kulissen sind Legende, sei es in den Paris-Filmen, in „Meló“ (nach Henri Bernstein) und vor allem in „Smoking/No Smoking“, dieser very British Versuchsanordnung über die Irrungen der Liebe, mit Azéma und Arditti in sechs Haupt- und drei Nebenrollen.

Seinen jüngsten Film hat er gerade in Cannes vorgestellt, er heißt „Vous n’avez encore rien vu“. Sie haben noch nichts gesehen: Alain Resnais lockt die Lüge so charmant aus der Reserve, bis die Wahrheit zurückblickt. Heute wird er unglaubliche 90 Jahre alt. Christiane Peitz

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