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Kultur: Wer nicht weiß, wohin, ist in der Fremde zuhause

Transitraum Alexanderplatz: Fünf Wochen lang treffen sich Leseratten, Stadtvagabunden und Nostalgiker im 36. Stock des Park Inn-Hotels, um Bücher von Hubert Fichte zu lesen

Mit großer Diskretion hat das Forum Hotel auf dem Alexanderplatz Namen und Besitzer gewechselt und gleichzeitig zwei Sterne verloren. Ob es noch andere Park Inns gibt? Eine Hotelangestellte schaut die andere an, ratlos: „Ich glaube, das gibts sonst nur in Amerika. Das ist in Europa das erste.“

Ansonsten aber hat sich nichts geändert. Gäste checken ein und aus, manche davon sogar mehrmals täglich: In Zimmer 3508 geschehen merkwürdige Dinge. Dort ist ein Hotel im Hotel, ein Transitraum entstanden, den 50 Besucher fünf Wochen lang betreten dürfen – um zu lesen.

„Auf gar keinen Fall will ich ein Sozialexperiment“, bekräftigt Saskia Draxler. Seit Tagen sitzt sie im Foyer des Park Inns, das von vielen auch benutzt wird, um schneller zu Burger King zu gelangen, und emfängt Bewerber für das „Hubert Fichte Hotel-Room“-Projekt. Saskia Draxler ist Konzeptkünstlerin, seit elf Jahren in Berlin. Die kleine Suite im 35. Stock hat sie unter ihrem Künstlernamen Jan van Delft angemietet, den man wiederum als Vermeer kennt, den niederländischen Maler häuslicher Idyllen.

In halbstündigen Interviews versucht sie nun herauszufinden, ob jemand bereit ist, es sich in der eigenen Stadt so fremd wie möglich zu machen und dabei auch noch Bücher des weitgehend unbekannten Schriftstellers Hubert Fichte zu lesen. Die Faustregel dabei ist: Wer ihr nicht sympathisch ist, kommt nicht rein. Die meisten allerdings sind „nett“, wie sie sagt, zwischen 25 und 35, Freiberufler und haben von Fichte zumindest schon mal gehört. Wenn nicht von Hubert, dann vom idealistischen Philosophen Johann Gottlieb. Aber um Bildung geht es nicht. „Wenn Sie nicht wissen, wohin“ lautet der Slogan von Saskia Draxlers Konzeptkunst-Reisebüro „Berlin-Touropa“. Touropa ist ein Reisebusunternehmen aus den Siebzigern und in Hubert Fichtes Ethnologie-Roman „Expklosion die Antwort darauf, was man mit 20000 Mark machen kann: „Eine Reise, die wir uns nie wieder leisten können!“ Das ist zweideutig genug für ihre Zwecke, fand Draxler.

Um 16 Uhr sitzt ihr die 64-jährige Gisela gegenüber und erwärmt sich schnell für die Idee. Sie ist Malerin, wohnt in Charlottenburg und am Alex war sie seit der Wende erst zweimal. Eigentlich kam sie nur aus Neugier. Dass sie mit bis zu drei Leuten das Zimmer teilen müsste, hat sie auf dem Infoblatt erst übersehen. „Ja, was mache ich da, wenn schon jemand im Zimmer ist? Da will ich doch nicht stören. Und ich wär ja sicher die Älteste!“ Sie windet sich. Aber es sei nur ein Spiel, sagt Draxler, das überzeugt sie schließlich. Saskia Draxler erklärt ihr noch schnell die Teilnahmebedingungen: Man ruft vorher an oder geht einfach vorbei, mit vier Leuten gilt der Raum als besetzt, länger als drei Tage hintereinander darf man sich in dem Zimmer nicht aufhalten, nach 24 Stunden kann wieder eingecheckt werden.

Fichte-Bücher sind vorhanden, dreimal der zwölfbändige Zyklus „Die Geschichte der Empfindlichkeit“, 50 Euro müssen vorher überwiesen werden. Eine Kamera, zwei Diktiergeräte und ein Gästebuch können benutzt werden, Live-Übertragungen gibt es allerdings keine.

Saskia Draxler weiß nach über 50 Interviews ziemlich genau, was die Leute an dem Projekt reizt. „Die einen interessiert das Abenteuer und dieser Versuch, mit Nähe und Fremdheit in diesem Raum umzugehen – dann gibt es eine Faszination für den Ort selbst, das Forum-Hotel“, Park Inn nennt sie es noch nicht, „und ein Drittel ist über das Fichte-Ding dazugekommen“.

Das Fichte-Ding ist die abstrakteste und am wenigsten berechenbare Komponente in diesem Spiel. Dass man den unter Kennern sehr begehrten Autor lesen kann, soll und darf, ist klar. „Das wünsche ich mir, dass das Leute lesen“, sagt Draxler. Denn Fichte, der 1986 mit 51 Jahren starb, werde viel zu wenig gelesen, das steht fest. Sein großes Projekt über die Erforschung der „Empfindlichkeit“ umfasst Romane, Interviews, Hörspiele, Glossen und Reiseberichte und rangiert, unvollendet, neben Marcel Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“. Alle Texte zeichnen sich durch ihre extreme Durchlässigkeit aus, glasklare Sätze, viele Dialoge und Brüche. Der Hamburger Schriftsteller war eigentlich dauernd auf Reisen und schrieb darüber. „Irritationsfähigkeit gegenüber dem Fremden“ hat er seine Spurensuche in der „Geschichte der Empfindlichkeit“ genannt. In der Stadt, in der man lebt, ist diese Erfahrung am schwersten zu machen. Deshalb gibt es jetzt „Berlin-Touropa“.

Die Fahrt in die Spitze des Wolkenkratzers ist schmerzhaft. Der Druck steigt ab der 20. Etage spürbar an. In der 37. dann erstmal das Casino. Black Jack und Roulette. „Keine blauen Jeans und keine Sportschuhe, Sie sollten schon Abendgarderobe tragen”, erklärt die Servicvekraft.

Zwei Etagen tiefer liegt die Fichte-Suite. Nirgendwo ist der Fernsehturm größer. Die Fenster lassen sich nicht öffnen. „Da würde sich doch sonst jemand runterstürzen“, erklärt Robert, der mit seiner Kamera dicht auf das Fensterglas hält. Band 1, „Hotel Garni“ liegt aufgeschlagen auf dem Couchtisch, das passt. Robert, Grafiker und Fotograf, hat gleich am zweiten Tag hier gebadet, sonst nichts. „Immer, wenn ich in ein Hotelzimmer komme, muss ich erstmal baden“, schrieb er ins Gästebuch. Gisela hatte gestern das Gefühl, dass die Passanten auf dem Alexanderplatz sich von ihr beobachtet fühlen. „Aber das ist ja Quatsch, oder?“ Dann hat sie fast den ganzen Abend ferngesehen und nun ein schlechtes Gewissen. Der Zimmerservice, wird begeistert berichtet, bringe jeden Morgen vier Frühstücke, auch wenn nur einer da ist. Das Hotel-Erlebnis ist erstmal das Wichtigste. Die schwarzen Fichte- Klötze liegen wie Kohlen-Briketts im schmalen Flur aufgeschichtet, da, wo Zuhause die leeren Flaschen stehen. Doch sonst erinnert nichts an Zuhause. Und alles an das Forum Hotel: Die Logos sind noch auf die gesamte Zimmerausstattung geprägt. Ein Schwebezustand. Nicht nur für die Reisenden im „Berlin-Touropa“-Land.

Bis 8.3. im Park Inn-Hotel. Unter www.berlin-touropa.de werden täglich Bilder und andere Zeugnisse aus Zimmer 3508 abgelegt.

Stefanie Wurster

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