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Ricky

© ddp

WETTBEWERB: Sturzflug durch den Supermarkt

Wunder gibt es immer wieder: François Ozon hat mit „Ricky“ einen verrückten Film um ein fliegendes Baby gedreht - und eigentlich ein Sozialdrama gemeint.

Flügel haben Lisa schon immer fasziniert. Die Möwen, die um die Neubaublocks kreisen und die sie von ihrem Fenster aus beobachtet. Die Flügel des Grillhähnchens auf dem Teller. Ein Feenkostüm zu Karneval. Und nun hat sie einen neuen Bruder, Vater Paco hat das Kinderzimmer mit Himmel und Wolken ausgemalt, und dem Bruder wachsen: Flügel.

Ein fliegendes Baby, das bei den ersten Flugversuchen noch gegen die Scheibe knallt, bald fröhlich durch den Supermarkt saust und sich oben auf dem Kinderschrank sein Nest baut: Das klingt nach Fantasy, nach Komödie, nach Spaß – ganz bestimmt nicht nach einem recht düsteren Familiendrama, das François Ozon, der Melodramatiker unter den französischen Regisseuren, mit „Ricky“ gedreht hat.

Hier geht es keinesfalls um Engel, um außerirdische Erscheinungen, um Wunder, im Gegenteil, Rickys Verwandlung wird mit aller anatomischen Deutlichkeit gezeigt, erst bilden sich rote Beulen, schmerzhaft und blutig, dann brechen dem Kleinen die Flügelchen durch, die roh und knochig wie Hähnchenflügel erscheinen, bis dann irgendwann Federn wachsen und die Fliegarme ihre Spannweite erreichen. Die Mutter misst vorsichtshalber im Supermarkt am Tiefkühlhähnchen nach, wie sich das Körper gewicht zur Flügellänge verhalten muss. Und kann nach einem Sturzflug Rickys durch den Supermarkt doch nicht verhindern, dass ihr Sohn zum Medienereignis wird. Die vermeintliche Wundergeschichte – sie kommt in dem Film denkbar geerdet daher.

Dabei ist der Fabrikarbeiterin Katie tatsächlich ein Wunder passiert, und wenn es auch vorerst nur darin besteht, dass da noch einmal ein Mann in ihr einsames Leben als alleinerziehende Mutter getreten ist. Ein Mann und bald auch ein Kind, das von Lisa (fast schon unheimlich ernst: die kleine Mélusine Mayance) Ricky getauft wird. Da ist aus der freudlosen Zweierbeziehung zwischen Mutter und Tochter plötzlich eine richtige Familie geworden, Vater-Mutter-Kind, und das, ja das ist schon ein Wunder für die schmale, blasse Frau. Verglichen damit sind die Flügel, die dem Kind nach einigen Monaten wachsen, fast nebensächlich: Katie betrachtet Rickys anatomische Veränderung nach erstem Befremden mit wissenschaftlichem Interesse und mit gesundem Pragmatismus: Sie baut ihm ein Flugkostüm, kauft Fahrradhelm und Vogel bücher und freut sich wie ein Kind an den ersten Höhenflügen des vergnügt kreischenden Babys. Ricky ist halt ein bisschen anders. Geliebt wird er trotzdem.

Erstaunlich genug: Ozon, der zuletzt mit „Angel“ in einer exzessiven Kostümorgie geschwelgt hat, hat mit „Ricky“ einen gradlinigen Sozialfilm im Stil der Dardenne-Brüder gedreht, eine starke Frauengeschichte, in einem schlichten Neubaublock, dem die Kamerafrau Jeanne Lapoirie eine surreale Schönheit verleiht, nächtlich flimmernd über dem Wasser und dann im Morgengrauen sanft errötend. Es geht – jenseits des surrealen Elements eines fliegenden Babys – um eine junge Arbeiterliebe, mit viel Härte und Verhärmung, Arbeitsstress und Alltagssorgen. Man hätte kaum geglaubt, dass dieser Katie (eine Entdeckung: Alexandra Lamy) noch einmal Leben und Farbe in ihr blasses Gesicht kommt, das sie nur in Arbeitspausen mal in die kalte Wintersonne hält. Morgens, wenn die kleine Tochter sie mühsam wecken muss, damit sie sie zur Schule bringt, ist es dunkel, abends, wenn sie sie nach der Fabrik wieder abholt, ist es dunkel, sie leben eine Schattenexistenz, diese beiden. Ein ein gespieltes Team, aber immer müde und ernst und viel zu erwachsen. Da hat es auch der attraktive Spanier Paco (Sergi Lopez) nicht leicht, die Mauer aus Selbstschutz und Misstrauen zu überwinden.

Ein gewisses Glaubwürdigkeitsproblem besteht natürlich schon, was den Umgang mit Ricky betrifft, und fast dämmert der Verdacht, dass der Film ohne die Flugszenen vielleicht stärker gewesen wäre. Aber die fast wissenschaftliche Akribie, mit der Ozon Rickys Abnormität zeigt, sowie der große Ernst, den Alexandra Lamy ihrer Rolle gibt, tragen die Geschichte über jeden Zweifel hinweg. Diese Katie ist keine Spinnerin, sie ist eine erwachsene, vernünftige Frau, die sich mit einer unerwarteten Situation konfrontiert sieht und sie nach besten Kräften meistert. Es ist eine geniale Metapher, die Ozon mit seinem – einer Erzählung von Rose Tremain entlehnten – Bild eines fliegenden Babys gefunden hat. Im Gewand eines fantastischen Films geht es sehr konkret um Behinderung und Andersartigkeit, um Kindstod, Trauer und psychische Störung. Und einen Neubeginn des Lebens, mit einem schönen, himmlisch schwebenden Schluss.

In Fellinis „La Dolce Vita“ ist die Madonna zwei Arbeiterkindern erschienen. Hysterie setzt ein, Blitzlichtgewitter, Massen von Schaulustigen und Journalisten drängen herbei, es herrscht Belagerungszustand in dem schlichten römischen Neubaugebiet. Das Wunder als Medienereignis – es ist ein Fluch. Als solchen erleben es auch Katie und Paco. Der Neubeginn des normalen Lebens: Das ist das wesentlich unwahrscheinlichere Wunder.

Heute 18 Uhr (Friedrichstadtpalast),

20 Uhr (Urania), 15.2., 12.30 Uhr (Berlinale-Palast)

Statt Kostümfest diesmal Dardenne-Stil. François Ozon liebt starke Frauen.

Christina Tilmann

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