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Kultur: Wie ein guter Witz

Deutschlands Litfaßsäule-Säule: Eine Ausstellung zeigt „Spiegel“-Titelbilder aus fünf Jahrzehnten

Manchmal gewinnen Schülerzeitungen unerwarteten Einfluss. Eine Schule in Pforzheim hatte sich an einem Wettbewerb um die „Schülerzeitung des Jahres“ beteiligt und in der Kategorie Titelbild gewonnen – mit einem Schulkind, dessen Schultüte sich bei näherem Hinsehen als Joint entpuppte. Wenig später war das Motiv an allen Kiosken. Der „Spiegel“ hatte sich inspirieren lassen und war durch die Schüler erst auf die Spur des „Powergras“ gekommen, einer neuen holländischen Zucht mit besonders hohem Marihuana-Anteil.

Von so manchem „Spiegel“-Titel ließen sich wohl ähnliche Entstehungs- und Wirkungsgeschichten erzählen, schade, dass die Ausstellung „Die Kunst des Spiegel“, die zweihundert Originale aus fünf Jahrzehnten präsentiert, wenig davon verrät. Gewiss, viele der Motive sprechen für sich, und es ist durchaus ehrenwert, dass Stefan Kiefer, der Titelbild-Ressortleiter beim Hamburger Nachrichtenmagazin, die Künstler selbst in den Vordergrund stellen möchte. Doch selbst der Katalog gleicht mehr einer Bewerbungsmappe als einer informativen Handreichung. Das ist zu wenig, nicht nur, weil sich die Kunstfertigkeit der Illustratoren erst im weiteren Kontext ihrer Arbeit offenbart, sondern auch, weil so mancher Ausstellungsbesucher die Brisanz und Wirkungsmacht älterer Motive kaum noch nachvollziehen kann. Denn das Titelblatt des „Spiegel“ war schon immer so etwas wie eine gesamtdeutsche Litfaßsäule – ein landesweites Bild.

Womit der „Spiegel“ aufmacht, das steht auf der Agenda öffentlicher Wahrnehmung, und zwar relativ unabhängig von der Qualität des dazu gehörigen Textes. So ist das Erste, was in der Galerie c/o Berlin auffällt, wie tief sich manche Motive auch in das eigene Gedächtnis eingeprägt haben: Seveso auf dem Dioxin-Fass, Heiner Geißler im Schafspelz, die erste grafische Darstellung des Aids-Virus, Goethe, Einstein, der Neandertaler. In den Anfangsjahren gab sich das Magazin noch ein strenges Äußeres: ein roter Rahmen und darin ein Schwarz-Weiß-Porträtfoto.

Groß war der Widerstand, als Eberhard Wachsmuth, ab 1953 für die Bebilderung zuständig, Titel-Illustrationen vorschlug. Immer wieder skizzierte er auf eigene Initiative Vorschläge, um doch stets wieder bei der Chefredaktion abzublitzen. Rudolf Augstein gab ihm den Spitznamen „gelernter Kunststudent“. Listig führte Wachsmuth die Illustration auf Umwegen ein. Er machte den Hintergrund der Fotos zu seiner grafische Spielwiese. So war der Schritt zur ersten Titelgrafik nur noch ein kleiner: Boris Artzybasheff zeichnete 1956 ein realistisches Portrait von Giorgio la Pira, dem Bürgermeister von Florenz, mit der Silhouette seiner Stadt zur Zeit der Renaissance im Hintergrund.

Das war eine größere Zäsur, als es zunächst den Anschein haben mag, eine neue optische Philosophie: der Wechsel von einem Abbild, das im Ausnahmefall vielleicht noch ikonische Kraft gewinnen kann, zu einer bildlichen Erzählform. „Ein gutes Titelbild“, sagt „Spiegel“-Chef Stefan Aust, „sollte sein wie ein guter Witz: das Zusammenwirken zweier Ebenen, die im Kopf des Betrachters eine neue Geschichte entstehen lassen“. Sein Lieblingsbeispiel ist der Titel „Des Kanzlers letzter Mann“, auf dem sich nur Schröder selbst abgebildet findet.

Künstler, die so etwas können, sind in Deutschland, wo die Illustratorenkunst im Gegensatz zu den USA nur wenig gilt, schwer zu finden. Zumal es sich um Werke in ganz traditioneller Machart handelt – sogar eine regelrechte Gorbatschow-Ikone, ein Tafelbild auf Holz, ist dabei. Das Zeichnen aber wird heute an den Kunsthochschulen zugunsten digitaler Bildkomposition immer weniger gelehrt, und so bleibt dem Spiegel wenig anderes übrig, als seine Bildmacher selbst heranzuziehen. Die Wanderausstellung wird daher von Workshops begleitet. Für Berlin sind noch Plätze frei.

Hat sich ein Illustrator bewährt, bekommt er regelmäßig neue Aufträge, passend zum Spezialgebiet. Ludvik Glazer-Naudé greift meist dann zum Pinsel, wenn es um die letzten Dinge geht – die Illusion Zeit, Freuds Psychofalle, Gottes Urknall. Jean-Pierre Kunckel dagegen wird gebucht, wenn Fotorealismus gefragt ist. Aus seinem Atelier stammt einer der bekanntesten Spiegel-Titel überhaupt: die „Bush-Krieger“, eine Darstellung des Präsidenten und seiner Entourage in Superhelden-Posen. Rambo Bush trägt eine Brezel als Halsplakette – eine Idee, die Aust persönlich beisteuerte.

Weil man aber solche Details nicht erfährt, geht der vielleicht interessanteste Aspekt dieser Ausstellung unter: dass es sich nämlich um die Gesamtschau eines Oeuvres handelt, gewissermaßen das Werk eines künstlerischen Kollektivs aus Illustrator, Titelbild- und Chefredaktion, die meist eng zusammenarbeiten. Dabei kann es durchaus vorkommen, dass die Bildproduktion Hoheit gewinnt über den Text – nicht nur dann, wenn Schultüten aus Pforzheim Drogenrecherchen in Holland auslösen. Als Glazer-Naudés vom Art Directors Club ausgezeichneter Glaubens-Titel „Der göttliche Teufel“ anders ausfiel als bestellt, ließ Aust den dazugehörigen Text umschreiben, bis er passte.

Vielleicht tat er gut daran, denn es sind schließlich die Bilder, die auch im Ausland wahrgenommen werden. Das Porträt zum „Mythos Che Guevara“, das Che mit einem Heiligenschein aus einer im Kreis fliegenden Patrone darstellt, wird mittlerweile auf Basaren in Kuba gehandelt. Die Illustration zum „Urlaubsland Italien“, eine mit Pistole garnierte Portion Spaghetti, sorgte 1977 für diplomatische Verstimmungen und wurde durch einen italienischen Gegentitel mit Sauerkraut und Handgranate vergolten. Die Bush-Krieger dagegen erwiesen sich als Kitt fürs transatlantische Verhältnis. Auf Bestellung des US-Botschafters wurden Plakate angefertigt, sie hängen im Weißen Haus. Dem Vernehmen nach zeigten sich die abgebildeten Personen mit ihrer Darstellung sehr zufrieden.

c/o Berlin, Linienstr. 144 (Mitte), bis 6. März, tgl. 11– 19 Uhr, außer am 14. Februar.

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