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Ende des Aufstiegs. Neu gestaltete Parteiplakate für die Wahlen in Niedersachsen am kommenden Sonntag.Foto: dapd

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Kultur: Wie ein Reptil

Was sind die Piraten? Wissenschaftler und Essayisten versuchen, das Wesen der Partei zu ergründen.

Von Anna Sauerbrey

Vielleicht ist es ja bald vorbei. Für die Landtagswahl in Niedersachsen sagt Infratest dimap den Piraten gerade einmal drei Prozent voraus, im Bund liegt die Partei ebenfalls deutlich unter der Fünf-Prozent-Hürde. Kein Wunder also, dass Autoren und Verlage inzwischen beinahe im Wochentakt neue Piratentexte und -bücher auf den Markt bringen. Es muss alles gesagt werden, bevor es nichts mehr zu sagen gibt.

Zwei Dutzend Titel listet der Verband der Buchhändler für den Suchzeitraum 2010 bis 2013; die beiden für das Frühjahr angekündigten, autobiografischen Bücher von Ex-Vorstandsmitglied Marina Weisband („Wir nennen es Politik“, Tropen-Verlag) und von „taz“-Reporterin und Basispiratin Astrid Geisler („Piratenbraut“, Kiepenheuer & Witsch) nicht mitgerechnet. Darunter sind feuilletonistische Werke ebenso wie „harte“ politikwissenschaftliche Analysen, die Fragen aber sind immer die gleichen: Wer sind die Mitglieder? Woher rührt der Erfolg der Partei? Was ist ihr Programm? Und vor allem: Was ist ihr Wesen? Sind die Piraten die „politische Agentur“ der Individualisten, wie die Politikwissenschaftler Holger Onken und Sebastian Schneider schreiben? Sind sie die neue Freiheitspartei, wie die Schriftstellerin Juli Zeh meint? Oder sind sie zuerst Teil jener „transnational agierenden sozialen Bewegung“, in der sie die Göttinger Demokratieforscher Franz Walter, Stephan Klecha und Alexander Hensel verorten?

Das Problem aller Autoren ist, dass in den Medien schon sehr viel und auch manches Kluges über die Piraten geschrieben worden ist. Auch die Quellen sind im Wesentlichen die gleichen: die Zahlen der großen demoskopischen Institute und die öffentlich zugänglichen Dokumente der Partei. Für eigene Erhebungen hatte kaum einer der Wissenschaftler Zeit. Deshalb liest man auf die meisten der Fragen Antworten, die einem zumindest teilweise bekannt vorkommen.

Der Hauptgrund für den Erfolg der Piraten wird in einem Fehler im System gesehen, darin, dass die übrigen Parteien sich der Netzkultur nicht schnell genug angepasst haben. Der Duisburger Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte formuliert es so: Die Parteien bilden ein „System kommunizierender Röhren“. Versagt eine bei einem Thema, profitiert eine andere. Hinzu kam, wie man bei dem FU-Politologen Oskar Niedermayer kompakt nachlesen kann, das günstige Zusammenspiel vieler Faktoren bei der Abgeordnetenhauswahl in Berlin, die allgemein als Durchbruch gesehen wird: die große Digitalszene in der Stadt, die Möglichkeit zum konzentrierten Offline-Wahlkampf, die ungeschickten Reaktionen „der anderen“. Die „spielerische Unprofessionalität“ der Partei sei anfangs von großem Nutzen gewesen, ergänzen Christoph Bieber und Markus Lewitzki in demselben Band. Sie habe Offenheit signalisiert und anziehend auf Wähler und potenzielle Mitglieder gewirkt.

Auch die Analyse der Wählerstruktur birgt wenige Überraschungen: junge Männer, vergleichsweise gut gebildet, häufig aus dem IT-Sektor. Interessant ist die Analyse zur Berlinwahl von Walter, Hensel und Klecha, die feststellen, dass die Partei gut unter gewerkschaftlich organisierten Arbeitern abgeschlossen hat, dass also das Thema soziale Gerechtigkeit offenbar eine starke Rolle spielte. „Frappante“ Ähnlichkeiten entdecken die Autoren auch zur Wählerstruktur rechtspopulistischer Parteien.

Schwieriger gestaltet sich der Versuch, die Piraten inhaltlich zu fassen. Stefanie Haas und Richard Hilmer positionieren sie im Sammelband von Niedermayer auf einem Links-rechts-Kontinuum von eins bis zehn bei einem Wert um vier, zwischen den Grünen und der SPD. Die Piraten selbst sehen sich laut einer Befragung von Tobias Neumann in demselben Band allerdings eher als „sozialliberal“. Als wichtigstes Element der Selbstbeschreibung arbeitet der Autor die Ablehnung der repräsentativen Demokratie heraus. Gleich mehrere Autoren stellen unter Piraten einen allgemeinen politischen Überdruss fest. Juli Zeh hingegen meint in dem von Friederike Schilbach herausgegebenen Essayband „Die Piratenpartei“, von der Drogenpolitik bis zum Bedingungslosen Grundeinkommen ließen sich alle Themen der Partei aus ihrem Freiheitsdrang ableiten. Das Internet sei nicht mehr als „eine angewandte Metapher“ für einen „zeitgenössischen Freiheitbegriff“.

Die Analysen sind geprägt von der Arbeit am lebendigen Objekt. Man wird den Eindruck nicht los, dass sich die Piratenpartei wie ein glitschiges Reptil unter den Federn der Wissenschaftler und Essayisten windet. Dennoch versuchen gerade die universitären Autoren, die Partei mit den üblichen Methoden und Modellen zu fassen. Niedermayer etwa ordnet den Aufstieg der Partei mithilfe des „Lifespan- Modells“. Auf den „Karrierestufen“ von Parteien von der ersten Wahlteilnahme bis hin zur Regierungsübernahme verortet er die Piraten auf Stufe vier von sechs. Andere Autoren diskutieren, ob der Erfolg der Piraten ein Zeichen dafür ist, dass die Digitalisierung eine neue gesellschaftliche Fundamentalspaltung bewirkt, ähnlich der industriellen Revolution, die die Sozialdemokratie hervorbrachte – eine These, die allerdings eher verworfen als bejaht wird.

Erhellender sind die Versuche von Walter, Klecha und Hensel aber auch von Christoph Bieber und Juli Zeh, die die klassischen Methoden der Wahlforschung mit kulturhistorischen Fragen verbinden. Die Piraten wurzeln demnach in der Hackerbewegung. Sie waren die Ersten, die die Kulturtechniken des Internets in den politischen Raum überführt haben: niedrige Hierarchien, die Zusammenarbeit über virtuelle Plattformen, den Kommunikationsstil, den Glauben, mithilfe von Technik eine neue Form der Demokratie begründen zu können. Kern der Partei sei ein „hybrides Selbstverständnis aus radikalem Individualismus und digital vernetztem Kollektivismus“, schreiben Walter, Hensel und Klecha. Auf die große Frage nach dem Wesen der Piraten wird man deshalb wohl eher antworten können, dass sie tatsächlich viele Züge einer Bewegung tragen, auch wenn sie als Partei organisiert sind.

Mit Prognosen halten sich alle Autoren zurück. Die Texte malen zwar politische Dramen an die Wand des Jahres 2013, sparen aber auch nicht mit Konjunktiven: Die Piraten „könnten“ die festgefügte Lagerbildung in der Koalitionspolitik verändern, sie „könnten“ zu einer dauerhaften Größe werden. Nur: Sie stehen sich selbst im Weg. Niedermayer stellt fest: Sie haben ein „Entzauberungsproblem“.

O.Niedermayer (Hrsg.): Die Piratenpartei. Springer VS, Wiesbaden 2012. 257 Seiten, 19,95 Euro.

F. Schilbach (Hrsg.): Die Piratenpartei. Bloomsbury Taschenbuch, Berlin 2011. 224 Seiten, 7,95 Euro.

A. Hensel, S. Klecha,
F. Walter: Meuterei auf der Deutschland. Ziele und Chancen der Piratenpartei. Suhrkamp, Berlin 2012. 96 Seiten, 6,99 Euro.

K.-R. Korte:
Beschleunigte Demokratie. Entscheidungsstress als Regelfall. In: APuZ/2012.

H.Onken, S.Schneider: Zu den Aussichten der Piratenpartei im deutschen Parteiensystem. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 3/2012.

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