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Kultur: Wie Politik und Poetik zusammenspielen Die Notizbücher von Peter Weiss werden elektronisch publiziert

Im September 1965 erklärte Peter Weiss in der ihm eigenen gestanzten Diktion: „Die Richtlinien des Sozialismus enthalten für mich die gültige Wahrheit.“ Da war gerade ein Jahr seit der Uraufführung seines „Marat /Sade“-Stückes vergangen.

Im September 1965 erklärte Peter Weiss in der ihm eigenen gestanzten Diktion: „Die Richtlinien des Sozialismus enthalten für mich die gültige Wahrheit.“ Da war gerade ein Jahr seit der Uraufführung seines „Marat /Sade“-Stückes vergangen. Dessen weltweiter Erfolg verdankte sich aber gerade dem Widerspruch zwischen dem hedonistischen Begehren des Individuums und dem Drang zum kollektiven Handeln. Allen, die den subtilen Schriftsteller kannten, war klar, dass Weiss gewaltige innere Kämpfe ausgestanden hatte, bevor er jenen Satz aussprach.

Einen tiefen Einblick in diesen Prozess gewähren seine „Notizbücher“. Als Kommentar zum Mammutprojekt „Die Ästhetik des Widerstands“ gedacht, erschienen 1981 die Aufzeichnungen aus den siebziger Jahren. Dann reichte Weiss zwei weitere Bände über den Zeitraum von 1960 bis 1971 nach. Noch im Mai 1981 bestätigte er: „Die Eintragungen sind ja gar nicht bearbeitet.“ Ganz so ist es nicht. Unter der Federführung des Germanisten und Weiss-Forschers Jürgen Schutte hat eine Arbeitsgruppe an der Berliner Akademie der Künste den Nachlass des in Berlin geborenen und als Jude in die Emigration getriebenen Autors durchforstet.

Nun präsentierte sie im Archiv der Akademie ein Textgebirge aus 9432 Seiten handschriftlicher Aufzeichnungen. Nur 40 Prozent der ursprünglichen Notizen sind in Druck gegangen. Ergänzt wurden sie durch Essays und Fragmente, die Weiss nachträglich eingefügt hat. Die vom Autor selbst besorgte Edition gibt also keinen erschöpfenden Einblick. Vielmehr, so Schutte, stellt sie im besten Sinne Literatur dar, einen „Selbstverständigungstext der Jahre 1980/81“.

Die unveröffentlichten Notizbücher werden das Peter-Weiss-Bild nicht in seinen Grundfesten erschüttern. Aber sie geben Aufschluss über viele bisher unbekannte Quellen, die Chronologie und Methode seiner Arbeiten. Mit der Freude des philologischen Pfadfinders berichtet Schutte etwa vom Fund einer schwedischen Kunstgeschichte, die Weiss’ Interpretation von Adolph Menzels Gemälde „Das Eisenwalzwerk“ in der „Ästhetik des Widerstands“ die Richtung vorgab. Oder von wörtlich übernommenen Gesprächsprotokollen.

Bei der Auswahl, die Weiss vornahm, waren natürlich auch persönliche und politische Rücksichten im Spiel. Der Zwist mit Hans Magnus Enzensberger und anderen geht laut Schutte zuweilen an die „Grenze des Druckbaren“. Zudem glättete Weiss seine Entwicklung zum écrivain engagé. Besonders interessant sind kritische Kommentare zur DDR: „Wo die Macht die Kritik niederzwingt,“ – heißt es in aller wünschenswerten Deutlichkeit – „stirbt die Kultur ab.“ Und während Weiss in der gedruckten Ausgabe nur eine westdeutsche antisemitische Reaktion auf das 1965 uraufgeführte AuschwitzOratorium „Die Ermittlung“ verzeichnet, liest man in der Handschrift: „Im einen Berlin nach Ermittlung die rohen Mordandrohungen, im anderen Berlin nicht erwünscht.“

Selbst wenn Weiss auch offiziell aus seinen Vorbehalten gegen die Praxis des realen Sozialismus nie einen Hehl gemacht hat – die kultivierte „Haltung des Zweiflers“, so Schutte, sei noch etwas anderes als die verzweifelte Suchbewegung, wie sie sich in den Handschriften mit ihren Streichungen und Überschreibungen darbietet. Dennoch ist es weniger politische oder private Opportunität, die Weiss zur Inszenierung seiner selbst und zur Literarisierung seiner Aufzeichnungen veranlasst. Immer hat er um das gerungen, was jüngere Autoren heute bestenfalls als Spielmarke einsetzen: Identität.

In familiärer, politischer und nationaler Hinsicht entwurzelt, hat Weiss bis zu seinem Tod 1982 in Schweden darum gerungen, seinem Leben eine Form zu geben. Der im Jahr 2000 aus dem Nachlass herausgegebene Roman „Die Situation“ schildert dieses Oszillieren zwischen den künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten des Films, der Malerei und des Schreibens. Vom Kampf um die Sprache zeugen auch die Original-Notizbücher. Alltagsquerelen sind häufig auf Schwedisch abgefasst. Geplagt von einer unablässig Staub produzierenden Belüftungsanlage, entwirft Weiss einen Brief an seinen Vermieter: „Wir können uns nicht mit ständigem Saubermachen beschäftigen!“ Kurz darauf macht Lotte Bischoff in der „Ästhetik des Widerstands“ sauber. Der Alltag also ist schwedisch. Die Sprache der Kunst, der Konstruktion und Distanz aber ist Deutsch.

Da die Publikation der Original-Notizbücher ein Konvolut von mehr als 3000 Seiten ergeben würde, hat man sich für eine elektronische Edition entschieden. Im nächsten Jahr soll sie in Zusammenarbeit mit der Firma Directmedia Berlin und dem Frankfurter Suhrkamp Verlag in den Handel kommen.

Welche Möglichkeiten das Medium eröffnet, lässt schon die Demo-CD-ROM erahnen. Erläuterungen zu Personen, Werken und Institutionen, die in Zusammenarbeit mit Zeitzeugen – allen voran seine Frau Gunilla Palmstierna-Weiss – erstellt wurden, sind dem Text unterlegt.

Ausgeschöpft würde das Potenzial allerdings erst, wenn es gelingt, die Notizbücher mit den anderen Werken auf einer CD zu „verlinken“: Günter Berg, Suhrkamps neuer Chef, scheint diese Idee zu gefallen. Dann stünde auch der Literaturwissenschaft dem Surfen mit Peter Weiss nichts mehr im Wege.

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