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Die Liebe eines Volks.

© AFP

Wie Südafrika auf den kranken Mandela schaut: Mandelas Herz und Haus

Nelson Mandela liegt auf der Intensivstation. Er hat Südafrika Freiheit geschenkt – und eine neue Sprachwelt.

Es ist qualvoll an ihn zu denken, wie er da liegt, auf der Intensivstation. Einst hat man ihn bis zum letzten Atemzug gejagt, jetzt jagt man Sauerstoff in seine müden Lungen, mit der gleichen Intensität.

Man sagt uns, dass er um Atem ringt, und irgendwie fühlt es sich so an, als ließen wir ihm nicht genug Luft dafür. Weil wir sie mit politischer Manipulation verschmutzen, mit sentimentaler Vereinnahmung seitens der verschiedensten Gruppen, und mit der Gier seiner Familie. Seine Augen sind geschlossen. Die haben wir auch zerstört – erst im Kalksteinbruch auf Robben Island, dann mit Blitzlichtern und zuletzt musste er ansehen, wie wir einander verbrennen, vernichten, ausplündern und totschlagen.

Aber sein Herz ist okay und da sind wir schon dabei: Über Nelson Mandela sprechen, heißt in Metaphern sprechen. Sobald man nur beginnt, über ihn nachzudenken, landet man bei Metaphern.

Zum Beispiel das erste Haus, das er als freier Mann gebaut hat. Nachdem er aus dem Gefängnis entlassen wurde, ließ er das Gebäude nachbauen, indem er die letzten Jahre eingesperrt war. In Qunu, der ländlichen Gegend, wo er aufgewachsen ist. Er hat die Gefangenschaft tatsächlich in die Freiheit verpflanzt, die Gefängniszelle gewordene Vorstadt. Er hat den gelben Backstein der Feindschaft in einen Ort der Heimkehr und Fürsorge verwandelt, in der weiten, offenen Steppe.

Fremdartig und unbehaglich hat dieser Ort ausgesehen in der jungfräulichen grasbewachsenen Weite von Qunu. Aber durch seine Beharrlichkeit, durch sein Vorbild, seine Persönlichkeit, seine Fähigkeit, Wahrnehmung zu verändern, hat Mandela das Haus zu seinem Haus gemacht und es mit Zukunft gefüllt. Das ist die klassische Mandela-Metapher: das Alte verwandeln, es zwingen sich anzupassen, hier und da einen Bruch hinnehmen oder zumindest ein paar Risse an den Rändern, aber den Südafrikanern dabei helfen, Platz zu schaffen für das Neue. Wir dachten, das sei unmöglich, aber ihm ist es gelungen.

Wie alle Metaphern gerät auch diese schnell außer Kontrolle. Spielt verrückt. Denn natürlich, neben den unvermeidlichen Sicherheitszäunen, Leuchtstrahlern und Schranken im Qunu-Haus mussten zusätzliche Zimmer angebaut werden für besondere Gäste und Wachpersonal, Rundhütten für die Besucher vom Land, Waschräume und ein Ort für die jährliche Weihnachtsfeier der Kinder. Als ich das letzte Mal vorbeifuhr, konnte man von der Straße aus den riesigen Seitenflügel sehen, den Graca Machel hatte anbauen lassen, um den gesamten Mandela-Clan unterbringen zu können. Die mochten es dort nicht besonders, sie empfanden einen Besuch bei dem alten Herrn in Qunu als „ziemlich rustikal“.

Um die Haus-Metapher zu vervollständigen: Mandela hat ein paar simple Dinge bewerkstelligt, mit denen er den Weg der Südafrikaner tiefgreifend veränderte. Er gab Ratschläge und inspirierte uns alle, ihm zu folgen. Das war wichtig, aber jetzt gibt es die Anbauten und die Sehnsucht einer Welt, die ihrer Vision beraubt wurde, ein besserer Ort werden zu können, dazu die ruhmsüchtige Liebedienerei bankrotter Staatslenker, die sich gern in Mandelas Licht sonnen und die jetzt ans Licht gekommene Gier und Korruption seiner geliebten Partei – und Familienmitglieder. All das verschattet die ursprüngliche Haus-Replik mehr und mehr.

In der Tat passen die Anbauten nicht zum einstigen Drei-ZimmerHaus und stören derart stark, dass man meinen könnte, das ganze Haus sei ein Fehler gewesen und ein Indikator dafür, dass Mandela keine Weitsicht besaß. Dass er so naiv war zu glauben, es ginge in diesem Land um die Versöhnung zwischen dem Haus der Gefangenschaft und der Freiheit der Steppe. Wegen dieses absurd untauglichen Komplexes, meinen viele, hätten wir Südafrikaner keine andere Wahl, hätten aggressiv und maßlos intolerant werden müssen. Versöhnung hat uns nichts gebracht, wir wüten gegeneinander. Und die Toleranz schützt nur wieder die Begüterten.

Dabei vergessen wir, dass Mandela das Land während seiner Regierungszeit von einem Stinktier in einen Kronprinzen verwandelt hat – dank seiner Integrität. Wir vergessen, dass er uns beizubringen versuchte, Intoleranz und Rache auf den Trümmerhaufen des Transformationsprozesses zu werfen. Jeder einzelne ist verpflichtet, an den Räumen der Güte mitzubauen, in denen wir in Würde miteinander leben können.

Politik ist die Kunst des Möglichen. Deshalb vergessen wir auch leicht, dass Mandelas Politik in gewisser Weise die Kunst des Unmöglichen war. Sein Vermächtnis beruht auf dem einzigartigen Fundament moralischer Autorität im Dienst des Unmöglichen. Mandela ist der Beweis, dass ein politischer Führer die sehnlichsten Träume der Menschen fast in Reinform verkörpern kann.

Aber jetzt liegt dieser Körper auf der Intensivstation und versagt. Alles hat ja mit diesem Körper angefangen, schon rein physisch hätte man kein besseres Symbol für Freiheit finden können als die beeindruckende Gestalt von Nelson Mandela. Am Tag seiner Freilassung überragte er alle anderen, er wurde zur Inkarnation der Träume und Sehnsüchte von Millionen von Südafrikanern. Er war frei, er ging aufrecht, so wurden auch wir frei und gingen aufrecht. Jahre der Verfolgung, des Widerstands, der Aggression, Angst, Sinnlosigkeit und Verzweiflung, der Wut und des Hasses fielen von uns ab, als dieses „Wunder von einem Mann“ unser aller bestes Antlitz wurde.

Dieses Antlitz, einst nur Gefängniswärtern und -Insassen bekannt, tauchte ab 1990 auf Fotos auf: in Palästen, Botschaften, Chefetagen, Sitzungssälen, Büros, in Vorortwohnungen, Küchen und Slums, auf Bürgersteigen und Schreibtischen, in Bibeln und an Wänden in selbstgezimmerten Rahmen. Nelson Mandela teilte sein strahlendes Selbst mit uns und wurde ein Teil von uns. (Und wir haben vergessen, wie er vor dem Scheidungsgericht weinte: Nach meiner Freilassung war ich jahrelang der einsamste Mann der Welt!)

Vielleicht ist nun die beste Zeit, an ihn zu denken, bevor sein Tod und das Spektakel seiner Beerdigung über uns kommen. Noch ist er intakt, in seinem Körper, der einst schön, aufrichtig und frei war, mit einem Herzen, das das Gute verstand und wollte. Wir Normalsterblichen, die wir uns aus der Ferne um ihn sorgten, sollten wissen, dass wir niemals wieder jemanden in unseren Herzen tragen werden, der so starrsinnig schön, so prinzipienfest, so elegant und mitreißend mutig ist.

Die 1952 in Südafrika geborene Lyrikerin und Schriftstellerin Antjie Krog ist zur Zeit Gast des DAAD in Berlin. Ihr bekanntestes Werk ist das halbfiktionale Sachbuch „Country of my Skull“, das 2004 mit Juliette Binoche verfilmt wurde. – Aus dem Englischen von Julia Prosinger.

Von Antjie Krug

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