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Ein Platz im Panthéon. Germaine Tillion in ihrer Privatbibliothek, 1972 in Saint-Mandé bei Paris.

© AFP

Wiederentdeckung: Die Enthologin Germaine Tillion: Ich kämpfe, also bin ich

Ihr mehr als hundertjähriges Leben war eine Kette von Widerstandshandlungen gegen Machtwillkür und falsch verstandenes Heldentum. Nun erscheinen die Werke der französischen Ethnologin Germaine Tillion auf Deutsch.

Neben Marie Curie hat jetzt auch Germaine Tillion einen Platz im Pariser Panthéon – als zweite Frau in der Ruhmeshalle. Voltaire, Jean-Jacques Rousseau und Emile Zola liegen an dem fast mystischen Ort, an dem Frankreich sein kulturelles Gedächtnis ausstellt. „Das Panthéon ist Stein gewordene Geschichte, eine verführerisch plausible Geschichte von Genie und Heldentum“, schrieb Philipp Blom in „Böse Philosophen“, seinem Buch über das vergessene, radikale Erbe der Aufklärung, „und deswegen ist es wichtig sich daran zu erinnern, dass die Struktur unserer Gegenwart nicht so gewachsen ist wie sie wachsen musste, einfach und organisch, sondern dass sie das Resultat zahlloser Entscheidungen und Gewalttaten ist, die immer wieder darauf abzielten, jeden einzelnen Moment der Gegenwart den Träumen und Albträumen der Mächtigen zu unterwerfen.“

Der rote Faden: ein unverbrüchlicher Glaube an die Menschheit

Das mehr als hundertjährige Leben von Germaine Tillion (1907–2008) war eine einzige Kette von Widerstandshandlungen gegen Machtwillkür und falsch verstandenes Heldentum, und sie hat mit ihrem unerschrockenen Pragmatismus viel bewegt. Es gebe einen roten Faden in ihrem auf den ersten Blick fragmentarisch wirkenden Werk, hatte sie bei der Übergabe ihrer Manuskripte an einen Verein erklärt, der sie nach ihrem Tod geordnet der Französischen Nationalbibliothek übergeben sollte, nämlich ihren Glauben an die Menschheit, der sie auch in den aussichtslosesten Situationen nie verlassen habe.

Wenn man ihre klarsichtigen, von Tzvetan Todorov aus dem Nachlass zusammengestellten Texte liest, die jetzt erstmals auf Deutsch erscheinen, spürt man diesen unerschütterlichen Glauben in jeder Zeile, hinter jeder spöttischen Bemerkung und jeder amüsanten Anekdote. Er half Tillion besonders in der schweren Zeit nach der Deportation, als sie 1945 zurück in Paris ein verwüstetes und leeres Elternhaus vorfand. Ihre Mutter wurde in Ravensbrück ermordet, die Tochter hatte durch viel Glück und solidarische Freundinnen dort überlebt.

Eine Ethnologin ganz nah an ihren Forschungsobjekten

In den chaotischen, besonders gefährlichen Tagen vor der Befreiung des Lagers versteckte Grete Buber-Neumann sie in ihrem Bett in der Krankenstation, und erzählte damals wahrscheinlich auch vom sibirischen Gulag, in dem sie selbst gefangen war. So setzte sich Germaine Tillion als eine der Ersten schon 1951 für die Erforschung der russischen Lager ein und wurde von ihren kommunistischen Mithäftlingen dafür wütend beschimpft.

Algerien und das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück sind die zwei entscheidenden Stationen ihrer politischen und intellektuellen Selbstfindung: Als frisch diplomierte Ethnologin forscht sie ab 1934 im Aurès-Gebirge über einen abgeschiedenen Berberstamm und löst sich entschieden vom akademischen Gestus. Sie taucht ganz in das Leben des Stammes ein, wird zur Vertrauten der Stammesältesten, die sie respektvoll und diplomatisch „Monsieur-Madame“ nennen, abends auf einen Kaffee vorbeikommen und offener mit ihr sprechen als mit ihren Familien.

Richtungsweisend für Michel Foucault und Roland Barthes

Ein Platz im Panthéon. Germaine Tillion in ihrer Privatbibliothek, 1972 in Saint-Mandé bei Paris.
Ein Platz im Panthéon. Germaine Tillion in ihrer Privatbibliothek, 1972 in Saint-Mandé bei Paris.

© AFP

Sie treffen auf eine genaue und rückhaltlos ehrliche Beobachterin, die bereit ist, sich selbst infrage zu stellen und als Forscherin einen offenen Dialog mit den Fremden zu führen, „denn was der eine von sich weiß, sieht der Andere nicht und umgekehrt. Andererseits sieht jeder im Anderen Dinge, die dieser von sich ignoriert. Durch diese permanente Gegenüberstellung lassen sich bis dahin unbekannte Linien erkennen. Etwas Vergleichbares erlebt man, wenn man eine Landschaft aus der Luft beobachtet.“ Mit dieser damals bahnbrechenden Haltung beeinflusste sie auch Michel Foucault und Roland Barthes.

Résistance: Kämpferin gegen die Nazis

Im Juni 1940, da ist sie 33 Jahre alt, kehrt sie nach Hause zurück. Auf den prekären Moment der Kapitulation reagiert sie leidenschaftlich patriotisch, ist aber ehrlich genug, das später nicht zu verklären. Doch zur Heldin wider Willen wird sie in der Résistance, als Leiterin der ersten Widerstandsgruppe, die Häftlinge aus Gefängnissen befreit und Nachrichten nach London übermittelt.

Was sie 1942 im Gefängnis und ab 1943 im Lager rettet, ist ihre Leidenschaft für das Analysieren von Strukturen und ihr Humor – versteckt in einer Kiste in der Kleiderkammer verfasst sie sogar eine Operettenrevue über das Lager. Und, genauso bewundernswert: Sie analysiert als Zeitzeugin die unmittelbare Nachkriegszeit. Viele ihrer Gefährtinnen begehen Selbstmord, weil ihnen die Anstrengung nicht gelingt, „ein Ideal, für das sie alles aufgegeben haben, all ihre Kraft verschwendet haben, in die Realität zu überführen … Es ist normal, dass der Mensch dann zusammenbricht: Widerstandskämpfer aller Länder, misstraut eurem Sieg.“ Dieser eindringliche Text, kurz nach dem Krieg geschrieben, heißt „Die Rückkehr“.

In den algerischen Widerständlern erkennt sie sich selbst

In ihren Ravensbrück-Studien (von 1947, 1973 und 1988), den drei Säulen ihres Werkes, spiegelt sich eine kluge Erinnerungs-und Trauerarbeit: der Kampf mit den verdrängten Erfahrungen und unwillkürlichen Falschaussagen ihrer Mitgefangenen; die Unmöglichkeit, vor Gericht eine Sprache zu finden, die ein angemessenes Bild von den Gräueln im Lager gibt, daneben ihr unwillkürliches Mitleid mit den Angeklagten (im Ravensbrück-Prozess 1947 in Hamburg), das sie selbst verstört.

Als wäre das noch nicht genug für ein engagiertes Leben, reißen sie 1954 die ausbrechende Algerienkrise und der folgende Krieg in ihre Strudel: Die Aufständischen suchen ihren Rat und es gibt mehrere hochbrisante Treffen, die sie in ihrem Kampf um faire Gerichtsverfahren für die Terroristen bestärken – in ihnen erkennt sie sich und ihre Résistance-Mitkämpfer von 1940 wieder. Erst jetzt gelingt es ihr, alle ihre Erfahrungen zusammenzuführen und deren Ambivalenzen nicht nur auszuhalten, sondern fruchtbar zu machen, indem sie erfolgreich zwischen der Befreiungsbewegung und der französischen Regierung (in der viele ehemalige Kampfgefährten von ihr sitzen) vermittelt. Einer ihrer Berater ist Albert Camus.

Der Sarg im Panthéon ist leer

Neben einem ausführlichen Anmerkungsapparat runden Vor- und Nachwort den sorgsam edierten Band ab, in dem eine radikale Aufklärerin sichtbar wird und eine sympathische Frau, die wunderbar spöttisch erzählen kann: Nicht zufällig erinnern manche Altersbilder von ihr an eine intellektuelle Miss Marple. Dass ihr Sarg im Panthéon leer ist, passt gut zu ihrer pragmatischen Zurückhaltung, die sich sicherlich gegen jede mystische Überhöhung gewehrt hätte.

Germaine Tillion: Die gestohlene Unschuld. Ein Leben zwischen Résistance und Ethnologie. Aus dem Französischen v. Mechthild Gilzmer. AvivA-Verlag, Berlin 2015. 335 Seiten, 22 €.

Nicole Henneberg

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