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Kultur: Wiedersehen mit Babylon

Die Mythen von Mesopotamien: Saddam Hussein sitzt nicht nur auf Öl, sondern auch auf dem Ur-Land der Zivilisation. Eine Ortsbesichtigung

„Dort, hinter dieser Tür“, sagt der Fremdenführer, „starb Alexander der Große. Aber wir können da jetzt nicht hinein.“ Ein schweres, mit Rosetten verziertes Holztor, der langgestreckte Bau soll einmal ein Tempelheiligtum gewesen sein. Die Sonne brennt auf die hellbraunen Ziegeln der Palastmauern. Blitzsauber hat die irakische Regierung die Umrisse des Innenbezirks der antiken Weltstadt rekonstruiert, in der Ödnis hundert Kilometer südlich von Bagdad. Sechzig Millionen Steine, mit „Saddam Hussein“ signiert.

Wir schreiten durch Innenhöfe von majestätischer Leere, deren kühle Symmetrie an die surrealistischen Gemälde eines de Chirico erinnert. Eine Welt-Bühne, leergefegt. Die einzigen Touristen, die in nächster Zeit hier auftauchen, könnten GI’s und britische Soldaten sein. Bald ein Jahr liegt unser Besuch zurück. Ein Jahr Diplomatie, Kriegsvorbereitung, Zerwürfnisse, Proteste. Babylon, im April 2002. Der Beginn der heißen Jahreszeit – die die amerikanischen Militärstrategen bei einem Angriff auf den Irak fürchten.

Wahrscheinlich war es die Malaria, die Alexander, den makedonischen Eroberer, im Jahr 323 v. Chr. im Zweistromland hinwegraffte. Babylon, Endstation. Das legendäre Babylon war damals nur noch ein Schatten früherer Epochen. Doch diese Schatten sind lang – die Mythen und die Geschichte des alten Mesopotamiens, auf das die Welt heute wieder mit Furcht und Begierde blickt.

Die aggressive Redewendung vom „alten Europa“ greift viel zu kurz. Denn der drohende Krieg, mit oder ohne UN-Mandat, rührt an tiefere Schichten der Historie und des kollektiven Bewusstseins. Auch der Vergleich der USA mit dem Römischen Imperium (seine Expansion scheiterte im Mittleren Osten) erscheint flach. Unvergleichlich größer und prägender als die der Römer war die kulturelle Leistung – und Hegemonie – der mesopotamischen Mächte.

Das Wort von der „Wiege der Zivilisation“ trifft den Kern. Mit dem babylonischen Herrscher Hammurabi (um 1700 v. Chr.) verbindet sich die Idee der systematischen Gesetzgebung, mit allerdings ausgefeilt grausamen Strafmaßen. Der assyrische König Assurbanipal richtete in seiner Hauptstadt Ninive (heute Nord-Irak) eine Bibliothek mit 30 000 Tontafeln ein. Zugleich entwickelten die Assyrer überlegene Kriegstechnologien. Ihr höchster Gott wurde mit einem Adlerkopf dargestellt – er verpflichtete die Assyrer, über die Welt zu herrschen.

Aus Babylon stammen die Grundlagen der Schrift, der Astronomie (die Berechnung der Mondphasen) und der Zeitrechnung (die sechzig Minuten der Stunde). Wenn man damals auch noch nicht zum Mond fliegen konnte, so dürfte der Turmbau zu Babel, von dem nur eine Erdsenke blieb und der so viele Künstler zu fantastischen Darstellungen inspirierte, seinerzeit eine ähnlich überwältigende Wirkung gehabt haben wie der touch down von Apollo 11.

Macht- und Prachtentfaltung Babylons hatten stets ein apokalyptisches Echo. Der Babel-Turm, der erste Wolkenkratzer der Weltgeschichte, evoziert in der Genesis die babylonische Sprachverwirrung. Die hängenden Gärten der Semiramis, der „Kaiserin der vielen Zungen“, die bei Dante im „Inferno“ schmort, gehörten zu den sieben Weltwundern, und der Verfall schwingt da immer schon mit – die Bedrohung durch feindliche Heere, die sich auf die unermesslich reiche Metropole der damaligen Welt stürzen, die Strafe des Himmels. Eine flammende Schrift an der Wand kündigte dem babylonischen Potentaten Belsazar die persische Invasion an. Das Menetekel traf die Hochburg der Ausschweifungen und Sittenlosigkeit und der Hybris: die große Hure Babylon. In der Offenbarung des Johannes hat sie ihren wohl dramatischsten Auftritt.

Das Bild vom Sündenbabel blühte im finsteren Katholizismus des europäischen Mittelalters. Es zieht sich durch Epochen und Kulturen. Islamistische Urteile über die dekadente amerikanische Kultur reflektieren heute dieses Ur-Bild der Verderbtheit. In das gleiche höllische Horn stoßen fundamentalistisch-christliche Prediger in den USA, zumal nach den Terrorattacken des 11. September, wenn sie die liberale westliche Gesellschaftsordnung – Homosexualität, Abtreibung! – geißeln.

„So soll Babel, das schönste unter den Königreichen, die herrliche Pracht der Chaldäer, zerstört werden von Gott wie Sodom und Gomorra, dass man hinfort nicht mehr da wohne noch jemand da bleibe für und für. Und wilde Hunde werden in ihren Palästen heulen und Schakale in den Schlössern der Lust“, heißt es beim Propheten Jesaja im Alten Testament. Es berichtet von der babylonischen Gefangenschaft der Juden unter Nebukadnezar by the Rivers of Babylon und vom Übervater Abraham, der aus der Stadt Ur kam, vom persischen Golf, dem Schauplatz der Sintflut. In dieser Gegend wird auch der Garten Eden vermutet – das Paradies. Vom Gilgamesch-Epos zur Bibel, von Herodot zu Heinrich Heine: Die Zivilisation, die dem Zweistromland entsprang, gleicht einer endlosen Geschichte von Krieg, Despotismus und Eroberungen – und bietet der Fantasie einen schier unerschöpflichen Fundus. Die Gegenwart macht da keine Ausnahme.

Durch die Mauerschluchten der Prozessionsstraße, auf der sich zu Nebukadnezars Zeiten am babylonischen Neujahrsfest die sagenhaften Umzüge wälzten, gehen wir auf die Stelle zu, wo einmal das Ishtar-Tor stand – seit der Eröffnung 1930 eine Hauptattraktion des Pergamon-Museums in Berlin. Der Archäologe Robert Koldewey leitete in den Jahren 1899 bis 1917 die Ausgrabungen der Deutschen Orient-Gesellschaft in Babylon – im Gefolge der Briten und Amerikaner, die schon vor den Deutschen das Zweistromland umgegraben hatten.

Kaiser Wilhelm II. galt als orient-verrückt (was man von Kanzler Schröder kaum behaupten kann). Er ließ an der Königlichen Oper in Berlin 1908 das ebenso pompöse wie langwierige Ballett „Sardanapal“ aufführen, ein pantomimisches Historiengemälde um den assyrischen Königs und Kriegsherren Assurbanipal. Bei der Premiere war der Saal nur halb gefüllt, und der deutsche Kaiser gehörte zu den wenigen Besuchern, die das Ende des orientalischen Kostümfests im wachen Zustand erlebten. Die Bühnenbilder stammten von Walter Andrae, Koldeweys Assistent bei der Babylon-Expedition und später Direktor der Vorderasiatischen Abteilung der Berliner Museen.

Doch steckten hinter der wilhelminischen Leidenschaft für das Morgenland nicht nur romantische Träumereien, sondern auch machtpolitische und ökonomische Interessen. Als ein deutsches Konsortium 1899 den Zuschlag für die „Bagdad-Bahn“ von der Türkei an den Persischen Golf erhielt, intervenierten Großbritannien, Frankreich und Russland – auch das Erdöl spielte damals schon eine Rolle. 1916 kämpften deutsche Soldaten an der Seite der Türken gegen die Engländer, die von Basra nach Bagdad vorstoßen wollten.

Während Archäologentrupps der Kolonialmächte in Mesopotamien antike Schätze aus dem Boden holten, erlebte Kalifornien einen neuen Goldrausch. Der Filmmogul W. D. Griffiths errichtete sein eigenes Himmelreich. Belsazars Babylon aus Holz und Pappmaché: Für den Monumentalfilm „Intolerance“ (1915/16) wurden 4000 Statisten engagiert, zu einem seinerzeit sensationellen Tagessatz von zwei Dollar plus freiem Mittagessen und Transport zum Set. „Intolerance“ war eine Kostüm- und Kulissenschlacht sondergleichen. „Weiße Elefanten – der Gott von Hollywood wollte weiße Elefanten, und er bekam weiße Elefanten, acht an der Zahl, Mammuts aus Gips auf Riesenpilz-Podesten, hoch über dem kolossalen Hof von Belsazar“. Mit diesem Fanfarenstoß beginnt Kenneth Angers „Hollywood Babylon“, die chronique scandaleuse der Traumstadt. Jahrelang verrotteten elegisch am Sunset Boulevard die Ruinen der babylonischen Filmstadt.

Hollywoods Größenwahn war geboren, und Babylon gehörte zu den Gründungsmythen des amerikanischen Zeitalters. Drei Jahre vor dem Börsencrash, dem black friday von 1929, erschien in den USA ein Buch mit dem Titel „Der reichste Mann von Babylon“ von George C. Clason. Der Autor dieses Millionen-Sellers, der bis heute nachgedruckt wird, entwickelte Geld-Tipps aus alten babylonischen Geschichten von Kamelhändlern und Tontafelschreibern. F. Scott Fitzgerald schaute auf die Nachtseiten. In seiner berühmten Erzählung „Wiedersehen mit Babylon“ erleben wir einen Amerikaner, der nach dem großen Crash Anfang der Dreißigerjahre in die alte Partystadt Paris zurückkommt, desillusioniert: „In der Ritz-Bar berührte ihn diese Stille seltsam und unheimlich. das war keine amerikanische Bar mehr. (...) Sie gehörte wieder zu Frankreich.“

Unser Führer durch die Kulissenstadt, ein irakischer Archäologe, beendet den Rundgang bei der Steinskulptur des babylonischen Löwen, der auf das Jahr 3000 v. Chr. zurückdatiert wird und im Palast Nebukadnezars (um 600 v. Chr.) gefunden wurde. Zeit faltet sich an diesem Ort zu gigantischen Fantasiegebirgen auf. „Wenn wir jetzt diesen Torbogen passieren, bitte ich Sie, nicht nach links zu schauen, und keine Fotos. Das ist unserem Präsidenten vorbehalten“, sagt der Mann in bestem Englisch.

Was da, in ein paar hundert Metern Entfernug von der Stadtmauer, auf einem Hügel zu sehen ist, gehört zu den Dingen, über die die Iraker nicht sprechen. Ein massiger Bau, halb Palast, halb Bunker, der die altbabylonische Stufenarchitektur nachahmt, erhebt sich über dem Euphrat: eine von Saddam Husseins Trutzburgen, die im Dutzend über das Land verstreut sind. Auf einem Originalstein aus dem Palast Nebukadnezars hat der Massenmörder Saddam seinen Namen als „Beschützer des Irak“ und Nachfolger Nebukadnezars einmeißeln lassen: Nebukadnezar baute nicht nur Babylon zur Weltstadt aus. Er zerstörte auch Jerusalem.

So nah an die legendäre Ausgrabungsstätte gebaut, nimmt Saddams Monument einer neuen babylonischen Selbstüberhebung das alte Babylon als Geisel – im Fall von Bombenangriffen. Während des ersten Golfkriegs, so ein Bericht der BBC vom Januar 2003, hätten die Amerikaner und Briten große Anstrengungen unternommen, historische Stätten zu verschonen; nun seien die smart bombs weiter entwickelt, es gebe eine Denkmalschutz-Liste für den Angriff – Kollateralschäden sind nie auszuschließen.

Auch der amerikanische Plan, nach einem gewonnenen Krieg den Vier-Sterne-General und Chef des US Central Command, Tommy Franks, als neuen Kalifen von Bagdad einzusetzen, zeugt von Hybris. Franks, ein Vietnam-Veteran, hat den Krieg in Afghanistan angeführt, er soll die Invasion des Irak leiten. Wird Franks, in Lumpen und Schleier gehüllt, dereinst durch Bagdad schleichen – so wie Harun al-Rashid, der berühmte Kalif aus „Tausendundeiner Nacht“, der wissen wollte, wie seine Untertanen denken?

Im Zweistromland fokussiert sich Geschichte und Kultur wie an keinem andern Ort. Die Welt starrt wie hypnotisiert auf diese Gegend und versucht das Menetekel zu entziffern. Saddam ist unberechenbar in seiner Brutalität, und die USA ziehen unter bestimmten Umständen für einen Irak-Krieg taktische Atombomben ins Kalkül – kleine Massenvernichtungswaffen.

Rüdiger Schaper

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