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Der Avatar schlägt zu. Robert Hunger-Bühler als John Porto und Dörte Lyssewski als Freya Genetrix im „Blinden Geschehen“.

© dpa

Wiener Burgtheater: Schatten, die mit Körpern spielen

Cyber-Drama: Botho Strauß zitiert in seiner neuen Weltfantasie "Das blinde Geschehen" am Wiener Burgtheater die Geister der Dramengeschichte.

Alles vorbei? Alles vorbei. Mit diesem Endbefund beginnt „Das blinde Geschehen“, das neue Drama von Botho Strauß. Auf der nachtdunklen leeren Bühne gaukeln mit Taschenlampen zwei Revuemädchen herum, die einem längst verblichenen Varieté entsprungen scheinen. Und sagen: „Es gibt kein Schauspieler mehr, es gibt nur noch Gespenster.“

Geisterstunde bei Botho Strauß? Obwohl die eher neckischen, tutugebauschten und strapsstrumpfbeinigen Mädels hier „Revueengel“ heißen (also auch Marlene grüßen lässt), meint das Gespenster-Urteil nicht nur die Theaterprofession. Die Bühne will wieder die ganze Welt bedeuten, will also sagen: Es gibt gar keine Menschen mehr. Oder zumindest haben die wahren Menschen, die guten bösen aus Fleisch und Blut, längst Konkurrenz bekommen. Du hast nicht nur ein Leben. Du hast auch dein „Second Life“. Und vielleicht hast du, suggeriert „Das blinde Geschehen“, schon gar kein Leben mehr. Der Schatten hat seinen Körper verkauft. Die männliche Hauptfigur im neuen Strauß-Stück ist darum ein Cyber-Magier. Angeblich selber schon aus der Innenwelt der Flimmerwelt, ein Avatar.

Dieser Schemen-Mann trägt den Kunstnamen John Porto, und er trifft in einem Zwischenreich aus abgewracktem Tingeltangeltheater und Großstadt(n)irgendwo auf Freya Genetrix. Dieser Name nun klingt urweibhaft manieriert, wobei das Germanisch-Römische, das göttlich Wallende für das Stück eigentlich nichts erbringt. Freyas Matrix ist eher von kunstvoll natürlicher Art. Wie all die Susannen, Lotte-Kottes, Steuber-Marien in den frühen Stücken von Botho Strauß bis zu den späten Mädchen in „Die eine und die andere“ gehört Frau Freya zur Familie der ewig unerfüllt Liebenden, Liebesirrenden, Liebesflirrenden, Nachfahrinnen der Kleist-Mädchen oder Horváth-Fräuleins. Aber das immer mit einer kräftigen Dosis Strauß-Spuk und einem erotisch-katastrophischen Spirit, der sie wie schöne, fremde Luftgeister in eine sozial erdenschwere deutsche Nachwirtschaftswunderdramatik hineinwehte.

Freya, das ist ein hübscher Anfangseinfall, sitzt mit nackten Beinen auf einem Lehnstuhl und spielt mit ihren Knien, die angewinkelt zwei Kindsköpfen gleichen, lässt ihre Körperteile wie Puppen miteinander sprechen, küsst sie, Knie flirtet mit Knie. Dann ist da plötzlich auch John Porto mit einem Laptop in einer Ecke des Raums, liest offenbar eine Botschaft von Freya, die er nun freilich real anspricht: „Alle Welt verliebt sich virtuell – und du spielst mit zwei verliebten Knien! Echten Knien aus Fleisch und Blut!“

Sonderbarer hat kaum je eine Mannfrau-Fraumann-Geschichte begonnen. Und im Wiener Burgtheater, wo jetzt Direktor Matthias Hartmann die hoch besetzte Uraufführung inszeniert hat, wird das beim Lesen noch ungreifbar Merkwürdige auch sofort zum sinnlichen Bild: Dörte Lyssewski, die als Freya häufig die Perücken und Gesichter wechselt, mal frühe großäugig schwarzköpfige Liza Minelli, mal Uma Thurman (in „Pulp Fiction“), mal Nadja Auermann strohblond, Lyssewski malt sich auf ihre Knie komisch einfach zwei lachend-traurige Mondgesichter, und Robert Hunger-Bühler in Jeans und T-Shirt mit seinem Laptop auf dem ferngesteuerten Sofa ist der maulende digitale Bohemien. Sie sagt: „Ich bin eine unhandliche Frau aus der schmuddeligen Realität. Eine Altgläubige des Schmerzes, der Lust, der Blumen, der Berge und der Briefe, echter Briefe auf parfümiertem Papier.“ Und er antwortet schlichter, parfümfreier: „Du Anwesenheitsantiquität.“ Das klingt souverän. Aber wenn ihm eine Frau etwas Irritierendes sagt, dann muss sich Herr Porto, der totale Zeitgeist, doch fragen: „Meinst du das virtuell oder stinkreal?“

Im Theater, wo ohnehin alles nur zum Schein geschieht, wird ein Liebesdrama so freilich schnell zum stinkfaulem Zauber. Auch sind ja virtuelle und reale Figuren, wenn sie von leibhaftigen Akteuren gespielt werden, nicht wirklich zu unterscheiden. Bevor das aber für eine Inszenierung zum praktischen Problem wird, hat Botho Strauß den großen Mummenschanz gesetzt. Außer sieben Revueengeln gibt es neben vielen anderen Randpassanten auch „Einen Unterirdischen“, eine „Schattin“, die „Struppige Sophie“ (das klingt nach „Harry Potter“) oder den „Chor der Ungeträumten“. Schattenwesen, Fantasyfiguren, Fabelwelten allenthalben. Und: „Die Riesen vom Berge“.

Die treten zwar nie auf. Nur ihr Grollen und Trapsen ist im Burgtheater mitunter zu hören. Aber Strauß zitiert unentwegt und offensiv die Geister der Dramengeschichte. Die „Riesen vom Berge“ sind hier wie in Pirandellos gleichnamigem Stück eine Vorahnung kulturloser, theaterfeindlicher Barbaren. Gleichsam märchenhafte Talibans. John Porto wird beraunt, doch leider nie beglaubigt als moderner Prospero mit dem Cyberstab, es gibt Figuren und Szenen, die Strindbergs „Traumspiel“ oder Schemen von Beckett bis Dorst wachrufen. Doch weil die Welt und alle Biografien, so lautet die These, sich nur aus einem Strom der Zufälligkeiten erheben, aus einem vernetzten, aber sinnlosen Chaos, eben dem „Blinden Geschehen“, driftet auch das neue Stück ins unverhofft Beliebige. Ein Potpourri aus handlungsarmen Spielnummern, Szenenpartikeln, Kurzgeschichten. Second Life? Ein Spiel aus zweiter Hand.

Dem setzt Matthias Hartmann, der sonst doch ein effektbewusster Szenenaufreißer sein kann, erstaunlich wenig entgegen. Hier müsste das Theater, anders und besser als bei Schiller-Goethe-Tschechow-Zurichtungen, tatsächlich mal üppigst mit digitalen Animationen und doppelten visuellen Welten spielen. Doch über weite Strecken arrangiert Hartmann in Stéphane Laimés fantasielosem Fastnullbühnenbild bloß eine Art Neowiener Zauberposse. Hauptperson: ein bereits von Strauß erfundener tanzender, singender Mikrofonständer. Ansonsten bleibt der Szenenreigen, trotz Choreografien von Ismael Ivo, bleischwer am Boden, am Text klebend. Zum Fliegen bringen könnte das nur ein eigenständiger, selbsterfinderischer Spielwitz. Einzig Maria Happel als „beleibte Reporterin“ und Sabine Haupt als ein wunderbar normales, durchschnittsmenschliches „Fräulein Gabriele“ geraten bei einem TV-Interview durch Überblendungen auf einem Gazevorhang für einige Minuten spannend aneinander. Auch liefern Peter Matic als greiser Lakai und Johann Adam Oest als skurril melancholischer Postkartenverkäufer schöne Kabinettstückchen.

Doch eben Stückwerk. John Porto, der personifizierte Liebestöter, sagt: „Im Prinzip bin ich ein Freund von allem, was mich nichts angeht.“ Das ist einer der glänzenden Strauß-Sätze. Aber Robert Hunger-Bühler spielt das auch so. Nicht einmal der Virus des Virtuellen geht ihn sichtbar was an. Kein Zauberer, kein Zwielichtiger in der Schwebe der Sphären. Hunger-Bühlers großes Talent ist die sinistre Komik. Hier aber bleibt er ein ernster Popanz, gegen den sich selbst die tolle Dörte Lyssewski mit kaum noch einem anderen Gegensatz als leidenschaftlicher Lautstärke und am Ende fast tonloser Melancholie behaupten kann. Man denkt dann, ziemlich traurig, dass Botho Strauß, der als einer der ersten Schriftsteller in Deutschland mit dem Computer schrieb und das kulturell Neue (als trotzig Konservativer) nur zu oft hellsichtig vorausspürte, zu den irrlichternden Wechselspielen der „Realität der Einbildungen“ und der „Einbildungen der Realität“ schon so viel Klügeres gesagt und Spannenderes erdacht hat. Längst bevor ein „Second Life“ existierte.

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