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Wiener Staatsoper: Das Herz in der offenen Hand

Gewalt und Intimität: Aribert Reimanns „Medea“, uraufgeführt an der Staatsoper Wien.

Das Orkantief „Xynthia“ hat Wien kaum gestreift, ein paar Regentropfen am Abend, stürmische Winde in der Nacht. Wüsste man nichts vom restlichen Europa und seinen Verwüstungen, man könnte auf den (sehr wienerischen) Gedanken verfallen, die labile Wetterlage sei der Uraufführung von Aribert Reimanns „Medea“ an der Staatsoper geschuldet. Ein mittleres Opernbeben, das die ganze Stadt erfasst: Auf der Bühne geraten riesige Felsblöcke ins Rutschen, aus dem Graben dringen rhythmische Erosionen – und im Saal, nach zwei Stunden Spieldauer, bricht sich einhelliger Jubel Bahn. „Medea“, eine Oper von 2010 (kein „Musiktheater“!), die überlebt: weil sie ihr Herz in der offenen Hand trägt. Und weil sie sich im Koordinatensystem der Tradition fest verwurzelt weiß.

Beides ist für Reimann nicht ungewöhnlich, und wer hätte ausgerechnet in Wien etwas anderes erwartet. Vor drei Jahren erst war die Wiener Staatsoper unter ihrem Intendanten Ioan Holender maßgeblich an der Verhinderung einer neuen Oper von Olga Neuwirth beteiligt – eine satirische „Don Giovanni“-Paraphrase mit pädophilem Aufhänger, das Libretto hätte Elfriede Jelinek geschrieben. Und auch Johannes Kalitzkes Ende Februar aus der Taufe gehobene Gombrowicz-Oper „Die Besessenen“ spielt mit viel Elektronik erstens in einem Supermarkt und zweitens drüben bei der Konkurrenz, im Theater an der Wien. Neue Oper ist eben nicht neue Oper.

Insofern steht Aribert Reimann mit seiner „Medea“ eher im konservativen, akademischen Eck. Der Berliner aber hat sich nie darum geschert, weder beim „Lear“ (1978) noch beim „Schloss“ (1984) noch bei „Bernarda Albas Haus“ (2000), in welche Richtung die ästhetischen Fähnchen gerade wehen. Trotzdem flößen einem die Uraufführungsingredienzien seiner neunten Oper ein leichtes Unbehagen ein. Da ist Franz Grillparzers beflissen antikisierendes „Medea“-Trauerspiel von 1821 (der dritte Teil der Trilogie „Das Goldene Vlies“), das Reimann, stark gekürzt, seinem selbst verfassten Libretto zugrunde legt; da agiert ein konventioneller Orchesterapparat, lediglich um Schlagwerk und Celesta erweitert; und da ist vor allem Marco Arturo Marellis Regie, die wenig Heutiges im guten, erregenden Sinn verheißt.

Was Marelli betrifft, so fühlt man sich unweigerlich in die seligen Zeiten von Götz Friedrichs Wiener „Elektra“-Inszenierung anno 1981 zurückversetzt. Medea, weil sie fremd ist und eine Zauberin, werden feuerrote Rastalocken verpasst und jede Menge filziger Designerstrick (Kostüme Dagmar Niefind). Die Griechen hingegen, König Kreon, dessen Tochter Kreusa und alsbald auch der heimgekehrte Jason, Medeas Gatte, tragen Strahlemax-Weiß. Die Szene zeigt ein wüstes, ödes Land (Marelli ist, wie meist, sein eigener Bühnenbildner), in das sich von Zeit zu Zeit ein stählerner Kubus hinabsenkt, Kreons leere Machtmaschine. Wenn Medea zu Beginn das Goldene Vlies und andere Habseligkeiten aus ihrer Heimat Kolchis vergräbt, dann scharrt sie im Pappmascheegeröll, bis es staubt.

Und wenn sie griechisch-kultivierte Gepflogenheiten erlernen soll, dann zupft sie hilflos an einer silbernen Lyra herum. Ihre Kinderlein meuchelt sie mit langem Spieß im Off, und am Ende – da ist dann auch Kreusa tot und Jason ein gebrochener Mann – trägt sie das Goldene Vlies wie eine Schlachterinnenschürze um den mittlerweile nachtblau gewandeten Leib.

Glaubt man Grillparzer und Reimann, ist dies ein utopisches Ende: Das Vlies kehrt nach Kolchis zurück, so wie Wagners Ring nun einmal den Rheintöchtern gehört. Marelli aber findet für diese Utopie (wenn es denn eine ist) kein Bild, nur weiteren Licht-Kitsch. Im Anschluss an die „Medea“-Premiere übrigens wurde er zum Ehrenmitglied der Staatsoper ernannt – als zweiter Regisseur nach Otto Schenk. Auch das ist Wien.

Reimann lässt seine „Medea“, was sehr berührt, ganz liedhaft verklingen und im Pianissimo, eine kleine Flötengirlande zu Medeas und Jasons letztem Rencontre und einzigem Liebesduett, dann ist es getan. Ein bisschen denkt man hier an Giuseppe Verdis „Aida“, ans Intime im Gewalttätigen. Ansonsten aber hat man wenige musikalische Assoziationen (was bei diesem Stoff, der von Cavalli bis Cherubini, von Händel bis Johann Simon Mayr vertont worden ist, verwundert).

Kreusa mit ihren notorischen Gute-Laune-Koloraturen erinnert an Richard Strauss’ Zerbinetta, ja, und die Szene mit der Harfe zitiert Wagners „Meistersinger“ vors innere Ohr, auch dem Ritter von Stolzing widerstrebt jedes aufgepflanzte Regelwerk.

Aribert Reimann findet hier zu einer dramatischen Sprache, wie sie destillierter kaum sein könnte. Nichts schwätzt, keine einzige Note ist überflüssig. Selten spielt das Orchester im Tutti, selbst in den beiden grandiosen Zwischenspielen wandern und mäandern die Klangfelder unablässig von einer Ecke des Grabens in die andere, mal clusternd sich aufhäufend, mal irre Fäden ziehend. Michael Boder und das Orchester der Wiener Staatsoper entwickeln für diesen inneren Tremor der Partitur, dieses Grundbeben ein feines, hingebungsvolles, genaues Gespür. Das vor allem macht, neben der gelungenen Dramaturgie des Ganzen, diesen Abend spannend.

Die Sensation aber sind die Sänger. Neben wenigen gesprochenen Passagen gibt es in dieser „Medea“ kein einziges Grillparzer’sches Wort, das von Reimann nicht in japsende, hechelnde, hackende Koloraturen aufgelöst wird. Kreusa (Michaela Selinger) darf dabei blauäugig sein und naiv, Kreon (Michael Roider) staatstragend, Jason (Adrian Eröd) geifernd und der Countertenor-Herold (Max Emanuel Cencic) wie nicht ganz von dieser Welt. Vor allem die fabelhafte Elisabeth Kulman aber als Medeas Amme Gora und Marlis Petersen in der Titelpartie machen mit belcantistischer Verve klar, um was es geht: um eine Intensität, eine Übersteigerung des menschlichen Ausdrucks, die so nur die Oper kennt. Ums Fremdsein in einer Welt, die behauptet, dass ihr nichts mehr fremd wäre. Und um eine Wahrheit, die so sehr bei sich bleibt wie Aribert Reimann bei seiner Musik.

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