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Verborgene Figurationen. Bei „ARU mit Punkten“ (Siebdruck von 1955) lassen sich durchaus Gliedmaßen entdecken.

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Willi Baumeister im Kupferstichkabinett: Der abstrakte Romantiker

Schaffen wie die Natur selbst: Das Berliner Kupferstichkabinett erinnert an den großen Nachkriegs-Modernen Willi Baumeister.

Für Willi Baumeister war es 1933 wie für viele Künstler und freie Geister, die nicht unmittelbar der Verfolgung ausgesetzt waren, die große Gewissensfrage: Soll man die Scholle und das Land seiner Väter verlassen? Im Jahr der Machtübernahme war er durch die Nationalsozialisten sogleich von seinem Posten als Akademieprofessor an der Städelschen Kunsthochschule in Frankfurt enthoben worden und in seine Geburtsstadt Stuttgart zurückgekehrt. Dort hatte sich in der Nachbarwohnung die SS einquartiert, was das Arbeiten zu Hause an der Staffelei nicht gerade erleichterte. 1941 erhielt Baumeister endgültig Malverbot.

Und trotzdem entschied sich der Künstler zu bleiben. Baumeister ging in die innere Immigration, arbeitete im Geheimen vornehmlich zeichnerisch weiter und blieb sich treu. Nach 1945 sollte sein Werk regelrecht explodieren, nachdem er endlich wieder ausstellen durfte. Zuletzt war ihm dies nur bei den französischen Nachbarn möglich gewesen. Der 56-Jährige holte nun nach, was ihm in der eigentlichen Blüte seiner Schaffensjahre verwehrt geblieben war, und avancierte zum großen Repräsentanten der deutschen Nachkriegsmoderne. Zehn Jahre später starb er, der Legende nach an der Staffelei, mit dem Pinsel in der einen, der Zigarre in der anderen Hand.

Das Berliner Kupferstichkabinett unternimmt nun den Versuch, den Künstler seiner schwäbischen Heimat zu entreißen, die er nie wirklich verlassen hat. Den Ruf ans Bauhaus nach Dessau hatte er nicht angenommen, nach Frankfurt war er immer nur gependelt. Seine Bilder ließ er allerdings reisen, auch nach Berlin – in der Vorkriegszeit waren sie in der Galerie „Der Sturm“ zu sehen, danach bei Gerd Rosen. Über ein Vierteljahrhundert nachdem die Neue Nationalgalerie den Maler zu seinem 100. Geburtstag gewürdigt hat, wird ihm nun nochmals in Berlin eine große Retrospektive gewidmet, die sich allerdings dem Ausstellungsort entsprechend auf seine Papierarbeiten konzentriert.

Baumeister ließ den Maschinenoptimismus hinter sich

Die von Andreas Schalhorn zusammen mit Catalina Heroven eingerichtete Schau öffnet den Blick für einen immens vielseitigen Künstler. Der Horizont erweitert sich auch zu den Kollegen, indem Arbeiten von Philip Guston, Jackson Pollock, Fernand Leger, Juan Gris, El Lissitzky, Max Ernst und K. O. Götz hinzugesellt sind. Baumeisters Wirkmächtigkeit bis hin etwa zu jüngeren Künstlern wie A.R. Penck und Keith Haring wird dadurch evident. Deren Piktogramme und Strichmännchen haben in ihm ihren Vorläufer.

Wer das aktuelle Ausstellungsprogramm in der Stadt Revue passieren lässt, kann noch weitere Verbindungen entdecken. Der Bezug zum französischen Surrealisten Yves Tanguy, der im gleichen Jahr wie Baumeister starb und gerade in der Sammlung Scharf-Gerstenberg neu zu entdecken ist (bis 8. 4.), liegt auf der Hand. Beide Künstler gehören zu den frühen Abstrakten, auch wenn sie die Gegenständlichkeit nie ganz aufgegeben haben. Beide entwickelten ihre Figurationen aus dem Amorphen heraus, mögen bei Tanguy auch am Ende Maschinenmenschen gestanden haben, während Baumeister den Maschinenoptimismus mit den 20er Jahren hinter sich ließ.

Studium mit Oskar Schlemmer

In welchem politischen Klima die Abstraktion der Nachkriegszeit gedeihen konnte, lässt sich in der Ausstellung „Parapolitik: Kulturelle Freiheit und Kalter Krieg“ im Haus der Kulturen studieren (bis 8. 1.). Willi Baumeister hatte mit seiner in den letzten beiden Kriegsjahren verfassten Schrift „Das Unbekannte in der Kunst“ auf deutscher Seite eine theoretische Grundlage dafür geschaffen. Sein Credo lautete: Die Kunst bildet nicht die Natur nach, sondern schafft wie die Natur selbst. Romantiker, der er war, glaubte er bis zuletzt daran: „Zu allen Zeiten ging die Kunst voran und gab den Kanon der gereinigten Sicht für die Augen der Menschheit.“

Dass sein Schaffen – obwohl einer der Aufrechten – Gegenstand von Manipulationen sein könnte, weil die CIA die Abstraktion als kulturellen Segen des Kapitalismus und Signet der Freiheit heimlich förderte, hat Baumeister zum Glück nicht mehr erfahren. Der Logik seines Werks können diese Verstrickungen ohnehin nichts anhaben. Im Kupferstichkabinett entrollt es sich eindrucksvoll, beginnend mit jenen Scherenschnitt-Figuren, für die Oskar Schlemmer als ein anderer Stuttgarter später Weltruhm erlangen sollte. Die beiden Freunde hatten gemeinsam in der Klasse von Adolf Hölzel studiert und ab 1937 in einer Wuppertaler Lackierfabrik ein Auskommen gefunden.

Baumeister lässt die Kunst einfach passieren

Zu dem Zeitpunkt hatte sich Baumeister längst von seinen optimistischen Maschinenmenschen und energetischen Sportlerfiguren, den Tennisspielern, Tänzerinnen, Schwimmern und Läufern, entfernt. Stattdessen sucht er Inspiration in der Literatur, wendet sich dem Gilgamesch-Epos aus der Zeit um 2600 v. Chr. zu. Von der Gegenwart in Bedrängnis gebracht, zieht er sich zurück in die Zeit der „Sumerischen Legenden“, so der Titel einer späteren Grafikserie, und entwickelt eine verrätselte Bildsprache. Als archäologischer Laie, der sich an Ausgrabungskampagnen in der Schwäbischen Alb beteiligte und selbst einige mesopotamische Rollsiegel besaß, überträgt er die frühzeitlichen Vorlagen in eigene Hieroglyphen. Eine Übersetzung liefert der Künstler allerdings nicht mit. Er verlangt vom Betrachter ein aktives Schauen.

In seinen Zeichnungen bedient er sich der von Max Ernst entwickelten Frottagetechnik, bei der durch körnigen oder geriffelten Untergrund die Struktur vorgegeben wird. Die Figurationen treten wie von selbst hervor und führen ihr Eigenleben. Die auch von Archäologen angewandte Durchpaustechnik findet hier in der modernen Kunst ihre Anwendung. Nach dem Krieg rückte Baumeister noch weiter von der eigenen Handschrift ab. Die neue Methode des Seidensiebdrucks leugnet jeglichen Strich. Baumeister lässt die Kunst einfach passieren. Was zuvor nur in Schwarz, Weiß und Grautönen geschah, kann nun in Farbe jubilieren.

Kupferstichkabinett, Kulturforum, bis 8. 4.; Di–Fr 10–18 Uhr, Sa/So 11–18 Uhr. Katalog (Wienand Verlag) 34 €.

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