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Kultur: Windschatten der Tragödie

Von Müttern und Kindern: Sasha Waltz inszeniert in Luxemburg Pascal Dusapins „Medea“-Oper

Medea, schon wieder. Die Kindsmörderin. Das Monster. Die Barbarin. Der Stoff hat Konjunktur, man mag gar nicht dran denken. An die hessische Kindsmörderin Monika Weimar, damals Mitte der Neunziger. An Daniela J., 23 Jahre alt, 1999 ließ sie in Frankfurt/Oder ihre zwei Kinder verdursten. An Sabine H., deren neun tote Babys 2005 in Blumenkästen verscharrt im Dorf Brieskow-Finkenheerd gefunden wurden. Und an die Berliner Mutter, die ihre vier minderjährigen Kinder monatelang sich selbst überließ und vor wenigen Wochen Schlagzeilen machte.

Mütter, die ihre Kinder vernachlässigen, misshandeln, töten. Das gibt es nicht. Das gibt es doch. Aber kann man davon erzählen, jenseits aller Sensationslüsternheit? Ist der Wirklichkeit mithilfe des antiken Mythos von der aus Eifersucht tötenden Mutter beizukommen, mit Euripides, mit Heiner Müllers „Medeamaterial“ oder Christa Wolfs Umdeutung der Medea als Sündenbock einer xenophoben Gesellschaft? Sprengt diese Frau nicht jeden Bühnenrahmen?

Nach Nina Hoss als Medea am Deutschen Theater versucht es nun Sasha Waltz. Am Anfang ihres gemeinsam mit der Akademie für Alte Musik und dem Berliner Vokalconsort realisierten Projekts stand eigentlich Luigi Cherubinis auf dem klassischen Stoff basierende Oper aus dem späten 18. Jahrhundert. Aber dann entschied sich die Berliner Choreografin für Pascal Dusapins „Medea“-Oper von 1991, nach Heiner Müllers Text. Das ist ein Novum für das Alte-Musik-Ensemble: ein Abend mit ausschließlich Neuer Musik. Und es ist verzweifelter, blutiger, abgründiger. Auch wenn Dusarpin die „Landschaft mit Argonauten“ ausspart, die Müller seinem „Medea“-Monolog beigesellt ist, hallt deren legendär gewordener rüder Ton bei Medea doch nach. Jene drastische Sprache, in der Müller die Plattenbauten, Schauplatz etlicher Kindsmorde der jüngeren Zeit, „Fickzellen mit Fernheizung“ nennt. Ein Ton, den Waltz’ aufgreifen wird?

Im Rahmen des europäischen Kulturhauptstadt-Programms hatte ihr Tanz- Musiktheaterabend nun am Luxemburger Grand Théâtre Premiere, bevor er im September an die Berliner Staatsoper kommt, zum Auftakt des interdisziplinären „Medeamorphosen“-Festivals im Radialsystem. Eine bewährte Kooperation: Vor zwei Jahren wanderte bereits Waltz’ erste Opernarbeit, ihre zauberhafte Purcell-Inszenierung „Dido & Aeneas“ von Luxemburg an die Lindenoper, wo sie seitdem Kultstatus genießt.

Jasons Frau, die Fremde aus Kolchis, im Korinther Exil. Eine Heimatlose, eine Vertriebene, eine Ausländerin. Korinth in Luxemburg, das passt. Das kleine finanzstarke Großherzogtum mit der Bankenmetropole (Ausländeranteil: 61 Prozent) richtet im Kulturhauptstadtjahr das Augenmerk auf seine Identität als Gastland und auf die jahrtausendealte Geschichte der Migration in Luxemburg und der sie umgebenden Großregion. Noch eine Steilvorlage: László Sandig, so liest man vorab, tritt als eins der Medea- Kinder auf. Der Zehnjährige ist Sasha Waltz’ Sohn. Diese „Medea“ braucht Mut. Das beginnt ganz still. Die Bühne liegt schwarz und leer und bleibt es bis zum Ende. Piano, piano: Ein Ton geistert durch den Saal, eine Menschenleiberschlange rollt nach vorn, windet sich zum Kreis, bricht auseinander. Tänzer in schwarzen und erdfarbenen Gewändern (jeder Zweite trägt Faltenrock) bilden Pyramiden, vielgliedrige, nur vom Licht modellierte Skulpturen und Laokoon-gleiche Figurationen, bis sie sich wieder zu Gewürm verkriechen.

Roboterhafte Gebärdensprache, mechanisch synchronisierte Pantomimik, wahlweise Körperwellen, Trauerzüge, Flüchtlingstrecks. Die Karawane zieht weiter – man kennt das von der Waltz- Company, man mag es und hat sich ein wenig müde gesehen daran.

Auftritt Medea, die Koloratursopranistin Caroline Stein im Callas-Gewand. Die Callas! Pasolini! Rache auf griechisch! Zwar schleudert Caroline Stein den aparten, von Dissonanzen und Mikrointervallen umspülten kleinen Terzen Dusarpins, diesem von den vorzüglichen Musikern und Sängern (die sich wie bei „Dido“ auch unter die Tänzer mischen) stockend gewebten Klangteppich aus Repetitionen, Schweigen und trancehaften Ostinati wütende Blitze entgegen. Sie entwurzelt Müllers Worte, treibt den Hass auf den untreuen Ehemann – „Alles an mir dein Werkzeug“ – in höchste Höhen, auch die giftige Hysterie gegenüber der Nebenbuhlerin und die Verzweiflung angesichts von Jasons Brut, den eigenen „Kindern des Verrats“, dem „Herzfleisch“. Dennoch findet Sasha Waltz kein Bild für den Schrei, für die Extrem- Emotionen zwischen Ekstase und Schock.

Die Seele rast, aber man tanzt Slowmotion. Der Mord an der Nebenbuhlerin Glauke, das vergiftete Kleid: ein Hauch von Stoff wird um eine nackte Schöne drapiert, eine Vogeleier-Kette geht zu Bruch, erdig-rote Farbe wird verschmiert. Als wär’s eine Kinderei. Dabei käme es darauf an, die symbolische Handlung zum Ritual zu verdichten, zur Beschwörung des Unfassbaren. Und die mordende Mutter?

Irgendwann legen sich die zwei tanzenden Kinder einfach auf den Boden, und Medea trauert stimmgewaltig. Keine Frage, die Scheu vor dem Sujet, die Verweigerung alles Spekulativen, ehrt die Choreografin. Waltz ist verspielt, melancholisch, eine Menschenfreundin, vor Medea schreckt sie zurück.

Zwei Momente an diesem 75 Minuten kurzen Abend lassen das Potenzial ihrer „Medea“-Annäherung wenigstens erahnen. Ein auf die Bühnenwand projizierter steinerner Fries mit antiken Figurengruppen evoziert die Epoche der Mythen; vor dem Berliner Pergamon-Altar hatte Waltz’ Ensemble im März erste „Medea“- Auszüge präsentiert. In Luxemburg beginnt der Fries zu leben, Tänzer verkörpern das Relief, der Stein beginnt sich zu regen. Ein fantastischer Augenblick der Vergegenwärtigung von toter Geschichte, der Bewusstwerdung von archaisch Unterbewusstem. Und den Unterwasser-Fries zu Beginn von „Dido & Aeneas“ zitiert er auch noch, jenes Cinemascope-Aquarium der nautisch-erotischen Leidenschaften. Die Kindsmörderin, einst war sie eine glücklich Verliebte.

Schließlich sorgen dröhnende, seitlich platzierte Ventilatoren für einen ohrenbetäubenden Wirbelsturm. Die Windmaschine zerstört jede choreografische Ordnung. Halte sich, wer kann, hier kommt Medea, die Windsbraut, und raubt uns die Fassung. Wenn auch nur vorübergehend.

Deutschlandpremiere am 16. September in der Staatsoper Unter den Linden.

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