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Kultur: "Winslow Boy": Wer immer lügt

Das Türöffnen und -schließen in Arthur Winslows Haus bildet das dramaturgische Scharnier, aber die wichtigste Rolle kommt der Gartenpforte zu. Als Mr.

Das Türöffnen und -schließen in Arthur Winslows Haus bildet das dramaturgische Scharnier, aber die wichtigste Rolle kommt der Gartenpforte zu. Als Mr. Winslow sie, während eines Plauschs nach dem Kirchgang, offen stehen sieht, ist das Unglück schon mit dem schlechten Wetter hereingeschlüpft: Der zwölfjährige Ronnie wartet in seiner durchnässten Kadettenuniform hinter dem Gebüsch auf den Mut, der Familie das Schreiben zu zeigen, das seine Relegierung wegen einer angeblich von ihm gestohlenen Postanweisung mitteilt. Energisch wirft das Hausmädchen die Tür ins Schloss. Wochen später, am Schluss der viktorianischen Komödie, wird Ronnies erwachsene Schwester Catherine den Staranwalt Robert Morton, der den guten Ruf der Winslows wiederherstellte, bis vor die Gartenpforte begleiten - und wer weiß, das Lächeln beider verheißt so vieles.

David Mamets sechster Film (zuvor reüssierte er als Drehbuchautor für Sidney Lumet, Neil Jordan, Barry Levinson und andere) folgt dem gleichnamigen Bühnenstück von Terence Rattigan aus dem Jahr 1946, das im Nachkriegseuropa rasch Furore machte und 1950 schon einmal für das Kino entdeckt worden ist. Die geschliffenen Dialoge, die Integrität der Charaktere und der keineswegs selbstverständliche, aber glückliche Ausgang prädestinieren Rattigans Szenen für zwei Stunden gediegener Unterhaltung. Die Ankündigung, der Fall habe sich genauso oder ähnlich im Jahr 1908 zugetragen, erhöhte noch die Anziehungskraft.

Schon spannend, wie das verletzte Rechtsempfinden einer "anständigen Familie" die Mauern eines Justizpalastes ins Wanken bringt. Doch davon erfährt der Zuschauer mehr vom Hörensagen hinter den Türen des Winslow-Hauses, dessen Bewohner der Sache wegen zeitweise eher dem Ruin nahe sind: Das Haar des Arthur Winslow, der dank der nuancierten Darstellung durch Nigel Hawthorne im Zentrum steht, wird immer heller, und statt eines Gehstockes benötigt er am Ende zwei. Die emanzipatorisch gesonnene Tochter (eine brillante Rolle für Rebecca Pidgeon) verliert den freilich wenig liebenswerten Bräutigam. Nur das Objekt der Geschichte, Ronnie (Jeremy Northam), lebt brav seinen Ehrgeiz aus, als wäre nichts vorgefallen.

Aber wer hat nun die Unterschrift auf der Postanweisung gefälscht, wenn es der aufrichtige Ronnie nicht war? Weder Stückautor noch Regisseur zeigten an dieser Frage Interesse, obwohl sie die viktorianische Welt, deren Kostüme noch im Moment der höchsten Not korrekt sitzen, einmal in Unordnung bringen würde. Was für ein Abgrund an Heuchelei und Lüge waren die Internate, in denen die Elite Englands gezüchtet wurde! Man denkt etwa an Musils "Törleß"; doch hinter dessen Modernität bleibt die Denkungsart von Rattigan und Mamet um Längen zurück.

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