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Kultur: „Winterreise“ auf Hartz IV Ein Schubert-Projekt

mit Malton und Matthes.

Sonntagabend, die Heilig Kreuz Kirche ist übervoll. Kein Wunder, bei freiem Eintritt und zwei Theater- und Filmstars, Leslie Malton und Ulrich Matthes. Doch tatsächlich ist’s ein kleines großes Wunder, was da als „Berliner Winterreise“ Schuberts Liederzyklus von 1827 und Texten „wohnungsloser Menschen aus Berlin“ von heute passiert. Eine Begegnung von Zeiten und Welten, eine Reise ins Herz, doch von höchstem Verstand.

Wenn sich Kunst und soziale Aktion verbinden, ist das ja allzu oft nur: gut gemeint. Oder aufgeregt und auftrumpfend. Gerne holen die großen Theater reale Arme, Schwache, Kranke auf die Bühne, dann untermalen Hartz-IV-Empfänger im Chor Gerhart Hauptmanns „Weber“ oder eine Schar Prostituierte die Wedekind’sche „Lulu“. Aber die erhoffte Provokation verpufft sehr leicht in Voyeurismus, pompösem Gratismut und politisch korrekter Selbstgefälligkeit.

Wie es anders geht, zeigt die Arbeit von Stefan Weiller. Der studierte Sozialpädagoge und frühere Lokalreporter (zuletzt „Frankfurter Rundschau“) betreibt seit drei Jahren ein „Kunstprojekt für Solidarität und soziale Teilhabe“. Franz Schuberts „Winterreise“, die in 24 Liedern zu Gedichten von Wilhelm Müller einen romantisch schwermütigen „Wanderer“ auf dem Weg zwischen Liebe und Einsamkeit, Sehnsucht und Tod begleitet, wird nun zur „Deutschen Winterreise“. Zuerst 2009 in Mainz, dann in Saarbrücken, Frankfurt am Main oder Osnabrück, hat Stefan Weiller obdachlos gewordene Frauen und Männer interviewt, über 220 Personen, davon 17 in Berlin. Er muss eine besonders feinfühlige Art haben, die von Partnern, Arbeitgebern, Krankheit, Schicksal, Unglück geschlagenen Menschen zum Sprechen zu bringen.

Das wahre Wunder ist nun, wie Weiller die Authentizität der Stimmen – das bestätigen die anwesenden Betroffenen – verdichtet und ihnen dabei eine poetische Kraft verleiht, die sich im Wechsel mit der Musik mühelos mit der 200 Jahre alten Dichtung verwebt. Weiller erhält selber für seine monatelange Vorbereitung gerade 900 Euro pro Aufführung, die prominenten Künstler treten gratis auf. In Berlin sind es Malton und Matthes, die mal im Altarraum, mal von den Emporen die Texte der Obdachlosen lesen; dazu die meist jungen Sänger (als Wanderer der Bariton Dirk Schneider), der Charlottenburger Kammerchor, der Pianist Heydayet Djeddikar und mit eigenen Schubert-Variationen das Duo FraGILe, Petra Woisetschläger (Gesang, Klavier) und Udo Betz am Bass. Stiftungsgelder sowie die Diakonie Berlin-Brandenburg haben das mit ermöglicht.

Stimmungen und Stimmen, die lange nachhallen: Die obdachlose Frau, die den dunklen Schrank vermisst, in dem sie sich als Kind versteckte. Ein anderer sagt: „Mein Lebensgefühl verträgt keine Möbel und passt in keine Wohnung.“ Die letzten Sätze lauten: „Die Hoffnung stirbt zuletzt. Das ist falsch. Hoffnung stirbt viel früher, die ist tot. Aber ich bin noch da.“ Nächste Station ist am 21. November St. Petri in Hamburg, mit Jens Harzer und Georgette Dee. Peter von Becker

www.deutsche-winterreise.de

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