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Kultur: Wir da oben

Ein Brite am Londoner Flughafen Heathrow spricht diskret in sein Handy.Yes, sagt er zu jemandem, ich fliege nach Europa, Freitagabend bin ich wieder hier.

Von Caroline Fetscher

Ein Brite am Londoner Flughafen Heathrow spricht diskret in sein Handy.Yes, sagt er zu jemandem, ich fliege nach Europa, Freitagabend bin ich wieder hier.Europa ist für die Briten das Land Außerhalb.Wie alteingesessene Inselberliner noch von West-deutschland sprechen, wenn sie Düsseldorf meinen, beziehen sich englische Insulaner auf Europa, als sei Großbritannien nicht Teil der Europäischen Union.Gut, das wirkt amüsant auf Kontinentaleuropäer, die den Menschen jenseits des Kanals verschrobene Egozentrik attestieren.Aber wie europäisch sind sie selber? Bei Brüssel denkt man an einen bürokratischen Apparat, der abgeschottet und fernab unserer Hauspolitik Steuern frißt - immerhin 170 Milliarden Mark klingen im Tiegel.Artikel über Brüssel kommen selten aus, ohne die "langen Flure" zu erwähnen, über die hochbezahlte, korrupte Beamte schlurfen.Nun löst Brüssel auch die Assoziation an die zwanzig Paßfotos der zwanzig zurückgetretenen EU-Kommissare aus, und Heiterkeit über Edith Cressons begünstigten Zahnarzt."20 Oskars für Europa" witzelte die taz auf ihrer Titelseite.Tatsächlich hat die Geschichte komische Seiten.Ihre politisch ernster zu nehmenden aber mag noch kaum ein Bürger an seinen politischen Horizont heften.In drei Monaten sind, den wenigsten bewußt, Europawahlen."Wir müssen eine Öffentlichkeitsarbeit aufbauen, die den Wählerinnen und Wählern Brüssel nicht als schwarzes Loch erscheinen läßt", sagt beherzt der grüne EU-Parlamentarier Wilfried Telkämper in einem Interview.

Drei Monate? Oha! Eine Werbeagentur würde verzweifeln (wahrscheinlich tun es gerade mehrere): Das Produkt Europa ist langweilig, fast konkurrenzlos unattraktiv.Verglichen mit einem Bundesligaspiel oder einer Bundestagsdebatte ist Europa zum Einschlafen.Wie viele Leute wollen wissen, wer José María Gil-Robles ist? Bitte! (Jedenfalls ist er der Präsident des Europaparlamentes.) Der stille Vertrag zwischen uns und dem politischen Hypergebilde "EU" lautet: Na schön, dann ist es eben da.

Ein riskanter Vertrag.Realitätstauglich ist er nicht.Seit 1.Januar prangen hierzulande die Preise aller Waren "zweisprachig" auf Packung und Werbung, und Geldautomaten spucken Belege in D-Mark und Euro aus.Nach allerlei Unmut der Jahre und Monate zuvor hat man sich jetzt damit abgefunden.Wer nicht in Industrie und Wirtschaft akut mit Eurokursen zu tun hat, kann das zweigestrichene "E" getrost übersehen.Aber es ist da, genauso wie Brüssel und seine 15 000 EU-Beamten, gern Eurokraten getauft.Während Deutschland mit dem beispiellosen Umbau seiner politischen Infrastruktur beschäftigt ist, während die Umzugswagen von Bonn nach Berlin rollen und uns die Frage umtreibt, wie deutsch wir sind und wie ausländisch die Ausländer, steuert Europa auf das Auflösen der Grenzen, auf das Jenseits vom Nationalstaat zu.Doch das Restaurieren historischer Insignien findet hierzulande mehr Zeitungszeilen und Sendeminuten als die Zukunft der Europäischen Föderation, in der wir doch - monetär - bereits zu leben begonnen haben.Außenminister Joseph Fischer gehört zu den wenigen Wachrüttlern, die wissen, daß parallel zur Einführung der gemeinsamen Währung eine europäische Verfassung, daß eine neue politische Struktur geschaffen werden muß.Vorläufer dieser Struktur sind in Brüssel und Straßburg bereits da, doch weder die Entwürfe noch die Gegenwart können derzeit politische Affekte entfesseln.Wer allein von Euroland zu profitieren scheint, sind Industrie und Handel.Rascher als das politische Kollektiv ihnen zu folgen bereit ist, ergreifen sie die Chancen der aufgelösten Grenzen.Mit dem europäischen Binnenmarkt sind sie als neoliberale Markteuropäer auf ihre, für sie erfreuliche Weise "Jenseits des Nationalstaats" angelangt.Durchschnittsdeutschland aber wünscht seit 1989 den nationalen Traum neu zu träumen und fragt sich, wer seiner "Leitkultur" und wie zu folgen hat, wenn er von draußen reinkommt.Dabei käme es darauf an, von drinnen rauszugehen.

Was uns daran hindert, ist eine historische Last: unser nationaler Provinzialismus.Deutschland ist nicht das einzige Land, das Widerstand gegen supranationale oder postnationale Organisationen aufzuweisen hat.Als regressive Antwort auf wirtschaftliche Krisen und das Verunsichertsein durch die Globalisierung tritt das Phänomen auch in anderen Ländern auf.Anstatt die Bereitschaft zu zeigen, von nationaler Souveränität in Fragen wie Gesetzgebung, Wehrpflicht, schulischer Curricula sukzessive abzurücken zugunsten von mehr Regierungsfähigkeit europäischer Institutionen, rücken die Deutschen in ihrem Land eher stärker aufeinander zu als auf Europa.

Das trägt auch bei zum derzeit starken Trend bei Bevölkerung und Medien, eine eben erst gewählte neue Regierung, die in einigen Teilen ihres Programmes womöglich Öffnung (Doppelpaß) versprochen hatte, gründlich zu diskreditieren, noch ehe sie die Möglichkeit hat, gegen sechzehn Amtsjahre der Vorgängerin etwas anzubieten.

Die Nation - bis zu einem gewissen Grad das Gegenteil von der Idee Europa - wirkt wieder magnetisch in der politischen Gegenwart.Das Phantasma "Nation" konstruierte eine vorpolitische Schicksalsgemeinschaft.Das Wort Nation kommt von nascere, natus (lateinisch für "geboren werden") und deutet auf den Zusammenhang mit der Blutsverwandtschaft, die für alle vordemokratischen Gesellschaftsformen konstitutiv ist.

Die Nation der Deutschen hat diesen Zusammenhang in ihrer Geschichte bekanntlich extrem betont, mit ungünstigen Folgen für viele andere.Vom Fundamentalisten-Nationalismus ist Deutschland heute trotz allem weit entfernt.Für ein dynamisches Engagement im Sinne des Euroföderalismus kann sich Deutschland gleichwohl nicht wirklich erwärmen, auch davon ist es zu weit entfernt - ein Grund mehr dafür, daß Europa "langweilig" ist.

Der "Brüsseler Apparat" ist kompliziert, die wenigsten wissen, wie er funktioniert.Wen es wirklich interessiert, etwa die von Regierungen unabhängigen Organisationen (NGOs), die aus Brüsseler Töpfen Geld schöpfen wollen, den belehren vor Ort Experten, die sich als teure Berater auf Förderanträge spezialisiert haben.Sie sitzen in kleinen Büros auf großen Boulevards und sondieren scharf, in welchem Department welche Beamten für welche Projektsorte EU-Mittel lockermachen - ein neuer Berufstyp.Bei akutem Eigeninteresse kann Brüssel für gewisse Gruppen also hochinteressant sein - wie für die Landwirte die Milliardensubventionen.

Für die meisten Bürgerinnen und Bürger bleibt Brüssels Europa Stoff für öde Sonntagsreden.Solange wir uns nicht für eine europäische Verfassung mit interessieren und aktiv einsetzen, bleiben wir politisch langweilige Deutsche und monetäre Europäer.Der Wirtschaft bleibt das Europa-Feld allein überlassen.Über die Konsequenzen hilft später kein Klagen.Im Augenblick verhalten wir uns "Brüssel" gegenüber wie Provinzler an einem Stammtisch: murrend, meckernd, und als machten "die da oben" eh, was sie wollen.

"Die da oben" sind aber wir - wie wir mal die "Nation" waren.

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