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Kultur: Wir können unser Schicksal ändern

BERLINALE SPECIAL: Warum Paolo und Vittorio Taviani in „Das Haus der Lerchen“ die Tragödie der Armenier schildern

Signori Taviani, Ihr Berlinale-Film „Das Haus der Lerchen“ schildert das Massaker von 1915 an den Armeniern in der Türkei. Was war Ihr Motiv, sich als Italiener dieser Geschichte zu widmen?

PAOLO TAVIANI: Ganz Europa hat sich schuldig gemacht, indem es die armenische Tragödie ignoriert hat, eine der schlimmsten des 20. Jahrhunderts. Aber wir wollten keinen Historienfilm drehen, der die Frage beantwortet, ob das nun ein Völkermord war oder nicht. Unser Film ist eine Mischung aus Fantasie und Realität, basierend auf dem Buch von Antonia Arslan, eine Geschichte, die anhand von Einzelschicksalen von einer großen Tragödie erzählt. Dabei geht es um Emotionen – die Historie überlassen wir anderen. Aber wir hoffen, ein Tabu gebrochen zu haben, damit sich nun auch andere mit diesem Thema befassen, ohne Animosität, sondern mit Respekt. Wir hoffen, dass der Film Diskussionen in Gang setzt.

VITTORIO TAVIANI: Ähnliche Tragödien ereignen sich auch in der Gegenwart, in Serbien, im Kosovo, in Ruanda. Völker, die zusammengelebt haben, Freunde und Nachbarn werden zu Feinden und Mördern. Etwas Schrecklicheres kann Menschen kaum zustoßen. Wir nennen das unseren nächtlichen Inkubus: Dinge, über die man in schlaflosen Nächten nachdenkt und keine Antwort findet. Daraus entstehen unsere Filme.

Viele Armenier sind damals nach Italien geflohen. Gibt es eine besondere Verbindung zwischen Ihnen und dem armenischen Volk?

PAOLO TAVIANI: Als wir aus der Provinz nach Rom kamen, um Filme zu machen, hat bei uns zu Hause eine alte, kleine Frau geputzt. Diese Frau war Armenierin, und sie sagte: „Ihr wisst nicht, welche Geschichten ich in mir trage.“ Wir wussten wenig von der armenischen Geschichte, man sprach nicht darüber, in den Schulbüchern kam sie nicht vor. Heute denke ich: Ich hätte mit dieser Frau sprechen müssen. Das wenige, das sie mir erzählt hat, habe ich ihr nicht geglaubt. Ich dachte, sie übertreibt.

Eine Hauptrolle wird von der Armenierin Arsinée Khanjian gespielt, eine andere von Tcheky Karyo, einem in Frankreich lebenden Türken. Wie haben sie reagiert?

VITTORIO TAVIANI: Arsinée war sehr tapfer, während des ganzen Drehs. Die schwierigste Szene war die, in der ihr Ehemann enthauptet wird. Arsinee sagte: Bitte dreht die Szene nur einmal, und lasst mich dann gehen. Nachdem sie abgedreht war, herrschte Stille auf dem ganzen Set. Ich hoffe, etwas von dieser besonderen Stimmung ist auch im fertigen Film noch zu spüren.

Das Bild der Türken ist im Film differenziert: Es gibt Mörder, Verräter, Angepasste – und die, die mit Armeniern befreundet sind und versuchen, sie zu retten.

VITTORIO TAVIANI: Ja, die Figuren haben ganz verschiedene Haltungen. Einige versuchen zumindest, die Kinder zu retten. Und da ist die sehr interessante Figur des Bettlers Nazim, der in einem schwachen Moment die armenische Familie, die ihn gefördert hat, verrät – und danach alles unternimmt, um sich von dieser Schuld zu befreien. Oder der Colonel Arkan, der immer mit Armeniern gelebt hat, etwas korrupt ist, sich auch an ihnen bereichert hat, aber in dem Moment, als die fanatisch nationalen Jungtürken auftauchen, ihnen Einhalt zu gebieten versucht. Und es gibt den Soldaten, der sich in die junge Armenierin verliebt und der am Ende, bei einem der wenigen Gerichtsprozesse wegen des Massakers an den Armeniern, vor aller Welt bekennt: „Ich bin schuldig, denn ich habe die Frau getötet, die ich liebte.“

Auch heute ist das Armenien-Thema in der Türkei ein Tabu. Schriftsteller wie Orhan Pamuk wurden angeklagt, weil sie sich dazu geäußert haben, der Journalist Hrant Dink ist ermordet worden. Welche Reaktionen erwarten Sie aus der Türkei?

PAOLO TAVIANI: Ein Teil des türkischen Volkes ist sicher bereit, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen – auch wenn sie vielleicht noch nicht den Mut haben, es zu sagen. Dieser Teil repräsentiert für mich die Türkei, von der wir hoffen, dass sie in die Europäische Union aufgenommen wird. Ein anderer Teil ist noch dem Mythos verhaftet. Es ist fast ein Jahrhundert vergangen, und noch immer will man davon nichts wissen. In den fünfziger Jahren, unter Atatürk, war die Türkei eines der fortschrittlichsten Länder, viel moderner als Italien. Also gibt es auch eine Tradition der radikalen Modernität. Nur weil die Aktionen der Extremisten heute so lärmend, so gewalttätig sind, identifiziert man die Türkei mit ihnen. Aber wir glauben, das sind nicht die Türken. Die Türken zum Beispiel , die in Deutschland leben, denken ganz anders.

Gab es Versuche von offizieller Seite, den Film zu verhindern?

PAOLO TAVIANI: Als das Vorhaben im europäischen Filmfonds Eurimages, der den Film fördern sollte, diskutiert wurde, waren da 33 Repräsentanten der europäischen Länder. Der Repräsentant der Türkei hat gegen den Film gestimmt, aber alle anderen stimmten dafür. Das ist ein gutes Zeichen für die künftige europäische Integration der Türkei.

Sehen Sie überhaupt eine Chance, Ihren Film in der Türkei zu zeigen? Oder fürchten Sie, dort zur Persona non grata zu werden?

PAOLO TAVIANI: Wir sagen immer: Wir hoffen, dass unser Film eines Tages in den türkischen Schulen gezeigt wird. Das ist eine Utopie, natürlich. Aber vielleicht auch nicht. Wir in Italien haben den Faschismus erlebt, als Kinder. Er schien eine unumstößliche, schreckliche Realität – unser Vater war Antifaschist –, und wir dachten, das würde sich nie ändern. Und dann, mit Kriegsende, hat sich unter unseren Augen diese Wirklichkeit in ihr Gegenteil verkehrt. Seitdem glauben wir, dass Menschen ihr Schicksal ändern können, zum Guten. Und das erwarten wir auch vom türkischen Volk.

VITTORIO TAVIANI: Wir haben unsere Filme immer gern in der Türkei gezeigt, auf dem Filmfest von Istanbul hatten wir eine Retrospektive, die wunderbar aufgenommen wurde. Wir sind große Freunde der Türken und gleichzeitig Feinde der „Jungtürken“, die 1915 die Massaker verübt haben. Es stimmt: Noch heute gibt es brutale Echos jener Vergangenheit, wie man an dem Mord an Hrant Dink sieht. Aber es gibt auch die Hunderttausend, die danach auf die Straße gegangen sind, um zu protestieren. Auch Erdogan versucht sein Bestes: Er hat immerhin den Mörder verurteilt.

Haben Sie Angst vor Bedrohungen?

PAOLO TAVIANI: Ein Film ist ein Film. Als wir gedreht haben, haben wir über dieses Problem gar nicht nachgedacht. Wir haben eine Geschichte erzählt, die auf einem Buch basiert, das in ganz Europa zirkuliert, wenn auch nicht in der Türkei. Es ist ja kein Geheimnis. Wir sind Italiener, die versuchen, einen Teil eines anderen Volkes zu verstehen. Das Problem besteht in der Türkei, und nur dort.

VITTORIO TAVIANI: Außerdem kommt man in seinem Leben manchmal an einen Punkt, wo man bestimmte Dinge einfach machen muss. Wir haben diese Geschichte gefunden, wir fanden, sie müsse erzählt werden, und wir haben sie erzählt. Man muss tun, was man tun muss.

Das Gespräch führte Christina Tilmann.

Paolo und Vittorio Taviani , 1931 und 1929 in der Toskana geboren, drehen seit mehr als 40 Jahren zusammen Filme. Ihr erster Kurzfilm entstand 1962 während des Studiums in Pisa unter Einfluss von Roberto Rossellini.

1977 wurden die Brüder mit Mein Vater, mein Herr (Padre padrone) bekannt. In Die Nacht von San Lorenzo erzählten sie 1982 vom italienischen Widerstandskampf im Zweiten Weltkrieg. Zuletzt verfilmten die Tavianis Romane von Goethe („Wahlverwandtschaften“, 1996) und Tolstoi („Die Auferstehung“, 2001).

Ihr Armenien-Film Das Haus der Lerchen läuft noch einmal heute um 17.45 Uhr (Cubix 8).

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