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Kultur: Wir Kofferkinder

Allein in Tokio: Hirokazu Kore-edas Meisterwerk „Nobody Knows“

Von Gregor Dotzauer

Eine Woche. Ein Monat. Ein Jahr. Welches Kind zählt schon die Tage, wenn es einem Schrecken ins Auge blicken soll, den es nicht für möglich hält. Die Hoffnung, dass jeden Moment die Tür aufgeht und Keiko, die Mutter, wieder dasteht, kann gar nicht aufgebraucht werden. Wie könnte auch alles anders sein. Keiko wird, aufgekratzt wie immer, die Müllberge beiseite schieben, die sich in einem Apartment eben ansammeln, sobald man vier Kinder sich selber überlässt, und den zwölfjährigen Akira, ihren Ältesten, fragen: Na, hast du schön auf Kyoko, Shigeru und Yuki aufgepasst? Aber wenn nach den fast zweieinhalb Stunden von Hirokazu Kore-edas Film „Nobody Knows“ ein Herbst, ein Winter, ein Frühling und ein Sommer vergangen sind und die Mutter noch immer nicht zurückgekehrt ist, fängt die Ewigkeit doch allmählich an, sich in die Glieder einzusenken.

„Nobody Knows“, der vierte Spielfilm des mit Fernsehdokumentationen bekannt gewordenen Japaners, ist eine Versuchsanordnung für vier verlassene Kinder und die großstädtische Gleichgültigkeit. Kein Jugendamt wird an die Tür der Wohnung klopfen, denn die vier Geschwister von vier verschiedenen Vätern sind nirgendwo gemeldet. Sie müssen also auch nicht zur Schule gehen. Kein Nachbar außer der Vermieterin, die sich einmal über Zahlungsverzug beschwert, wird sich um sie sorgen. Kein Hilferuf wird nach außen dringen, denn die Mutter hat ihre Kinder instruiert, sich unter keinen Umständen bemerkbar zu machen. Schon den Gang auf den Balkon hat sie untersagt. Nur Akira soll den Kontakt zur Außenwelt halten.

So heimlich, wie sie leben, sind sie auch gekommen. Keiko (gespielt von Showstar You), und Akira (Yuya Yagira, der 2004 in Cannes als bester Darsteller ausgezeichnet wurde) haben die Kleinen in Koffern einmal quer durch Tokio transportiert, um sie erst wieder in ihrem neuen Stall freizulassen. Sie bewegen sich in einem geschlossenen Kosmos – bis die aufbrechende Lust an der Freiheit und die Not, nach dem Abstellen von Wasser und Strom die Infrastruktur aufrecht zu erhalten, alle Regeln umstößt.

„Nobody Knows“ erkundet diese groteske Konstellation mit Verankerung in der Wirklichkeit. Der Film basiert auf einem Fall aus dem Jahr 1988, der als die Geschichte der verlassenen Kinder von Nishi-Sugamo in die Presse einging. Kore-eda liebäugelt aber weder mit den Beckettschen Dimensionen seiner Absurdität noch ist er auf die Diagnose gesellschaftlicher Verfallserscheinungen aus. Kore-eda sucht die kindliche Stärke in der Kunst der Selbstorganisation und wie die Geschwister am Ende doch an ihren Möglichkeiten scheitern. Und er beobachtet eine schleichende Verwahrlosung, die nichts wiegt gegen den Wunsch, auch unter den widrigsten Bedingungen zusammenzuhalten. Auf der Straße aufgelesene Freunde mögen sich weigern, noch einmal die Wohnung zu betreten, weil es dort zu sehr stinkt – die Geschwister sind füreinander da.

Kore-eda zeigt das alles auf Augenhöhe der Kinder, soweit sich die Erwachsenenperspektive überhaupt ausblenden lässt. Der konsequente Einsatz von Handkamera und natürlichem Licht wirkt dokumentarisch, doch jede Einstellung in der Wohnungsenge ist kalkuliert und zuvor am Storyboard gezeichnet worden. In den Großaufnahmen der Kinder entsteht eine hypnotische Nähe, die von Kore-edas zerdehntem, zyklisch angelegtem Erzählrhythmus noch gesteigert wird – sie versetzt den Zuschauer in die Unendlichkeit eines Zustands, in dem Gewalt und Poesie, Glück und Depression verschmelzen. Neben seinen Darstellern lebt „Nobody Knows“ vor allem von leitmotivischen Details: einem Spielzeugklavier, Fertignudeln oder den quietschenden Sandalen von Yuki, der Kleinsten. Man hört Yukis klagenden Gang noch lange, nachdem sie sich bei einem Sturz das Genick gebrochen hat.

In Berlin im fsk und in den Hackeschen Höfen (jeweils OmU)

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