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Kultur: Wir sind alle elitär

Das neue Museum für zeitgenössische Kunst in Paris-Vitry zeigt eine kulturell selbstbewusste Banlieue

Wer sich von der südöstlichen Porte de Choisy zum neuen Museum für zeitgenössische Kunst begibt, der kommt zunächst am Großsupermarkt der Tang Frêres vorbei. Das Emblem mit der aufgehenden Sonne verweist auf den fernöstliche Ursprung dieses Supermarché und auf die Nachbarschaft zum chinesischen 13. Arrondissement von Paris. Riesige Baustofflager, Deko- und Teppichbodengeschäfte schließen sich an. Das Conforma-Möbellager bietet die größte geschlossene Betonfläche in dieser von Wohnhochhäusern gesäumten Ausfallstraße nach Ivry und Vitry. Einige Kilometer weiter liegt ein Gebäude, in dem der Beton durch zahlreiche Glasflächen aufgebrochen ist: Das neue Museum MAC/VAL duckt sich unter den umliegenden Hochhauswohnvierteln weg und öffnet sich hinter einem kleinem Vorplatz dem urbanen Umfeld. Nur welchem?

Auch im Pariser Vorort Vitry wurden alle typischen urbanen Sünden der Moderne begangen. Zwischen Verkehrsflächen und unwirtlichen Wohntürmen steht an einem autogerechten Kreisverkehr das erste Museum für zeitgenössischen Kunst in der Pariser Banlieue. Als kulturelles Hoffnungszeichen gegen die Barbarei des blinden Hasses? Die acht jungen Ausstellungsbetreuer mit den vielen Hautfarben, die vom Museum im nahen Stadtumfeld rekrutiert wurden, erlangten in den ersten Kritiken der französischen Presse eine gewisse Berühmtheit. Die jüngsten nächtlichen Krawalle hat der 36 Millionen Euro teure Neubau immerhin unbeschadet überstanden. Vitry liegt nicht im Nordosten von Paris, nicht im sozialen Brennpunkt.

Was nach den Ereignissen der jüngsten Vergangenheit dennoch wie ein Appell gegen kulturelle Verwahrlosung aussieht, hat eine lange Tradition. Seit den sechziger Jahren wird in Frankreich auch die Kultur gezielt dezentralisiert, wenn es auch bisher vor allem Theaterhäuser waren, die sich in den links regierten Banlieues etablierten. Im drei Kilometer entfernten Théâtre des Quartier d’Ivry hat der früh gestorbene Antoine Vitez seine ersten großen Inszenierungen herausgebracht: „élitaire pour tous“, „elitär für alle“ sollte sein Theater sein. Auf der anderen Seineseite wird in der „Maison des Arts de Créteil“ schon seit geraumer Zeit Tanz und Theateravantgarde präsentiert.

Créteil ist jene Präfektur des Departement Val de Marne, deren Verwaltung sich seit über zwanzig Jahren aufs Sammeln zeitgenössischer Kunst verlegt hat – auf Initiative ihres ehemaligen Präsidenten Michel Germa, einem gelernten Drucker und Arbeiter mit Ambitionen, einem kulturellen Autodidakten. Bislang hat man die gesammelten Werke – französische Kunst seit 1950, insbesondere Malerei – an Betriebe und Krankenhäuser oder an das Gefängnis von Fresnes ausgeliehen. Nun kann man den reichen Bestand endlich im eigenen Haus präsentieren, zu dem das Kulturministerium die Hälfte beigesteuert hat. Außerdem gehört Vitry zum stolzen Verband der Musées de France, der Nationalmuseen.

Dennoch hat die Kunst hier einen besonderen Auftritt. In Paris ist sie im noblen Futteral der Museen zu Hause. Zusätzlich wattiert vom edlem Architekturumfeld der Innenstadt droht sie dort vor lauter Behütetsein zu verblassen. In Vitry dagegen stehen die Werke merkwürdig nackt und unmittelbar in Beziehung zur ruppigen Wirklichkeit. Man schaut hier anders auf Kunst. Und die Werke von César, Gilles Aillaud, Orlan, François Arnal, Etienne Bossut, Daniel Buren oder Claude Viallat scheinen auch anders durch die Brüche in den Betonpaneelen des Gebäudes nach außen zu blicken. Etwa ein Viertel des Sammlungsbestands wird in der neuen Dauerausstellung gezeigt. Daneben beherbergt eine große Sonderausstellungsfläche derzeit Bilder von Jacques Monory, einer Leitfigur der Figuration Narrative. Dem ging allerdings die dialogische Offenheit des Museumshauses zu weit: Er zog sich mit seiner Ausstellungsarchitektur in eine spiralförmige Innenwelt zurück und schützt sich auf diese Weise vor der Anmutung der kahlen Betonkuben.

Ein „Anti-Guggenheim“ wollte der junge Jacques Ripault bauen, einen Zweckbau mit „zisterzienensischer“ Schmucklosigkeit. Tatsächlich aber zieht sich die Architektur gegenüber der Kunst nur durch den verhaltenen Einsatz von kleinteiligen Gliederungselementen, durch den Verzicht auf Farben und Materialvielfalt zurück. Dafür behauptet sie sich umso deutlicher als ständig variiertes Spiel mit rechteckigen Wandscheiben aus geschliffenem Beton. Ein Manko: Die zentrale Gangway des Foyers ist von einem auskragenden Kubus mit Büroräumen überbaut, wodurch der Bau an der Eingangsseite einen verglasten Erker erhalten hat, in dem der Museumsgast zur Begrüßung unschöne Bildschirmrücken und USB-Verkabelungen erblickt. Die Inszenierung von Arbeit braucht das Haus sicher nicht, um seinem Auftrag auch als pädagogisches Kunstzentrum gerecht zu werden. Darüber hinaus beherbergt der neue Stolz des 94. französischen Departements ein Kino, ein Restaurant, zwei Ateliers für Artists in Residence sowie Depots für die nicht gezeigten Sammlungsbestände.

Die „Chaufferie avec Cheminée“, Jean Dubuffets höchste Plastik, stand bereits vor der Fertigstellung des Museums im Zentrum des Kreisverkehrs an der Nationalstraße 305, die hier Place de la Libération heißt. Nach Osten geht die Avenue Henri Barbusse ab, benannt nach dem Kommunisten und Pazifisten. Das Museum setzt die Idee der Banlieue Rouge, der roten Banlieue, fort. Zwei gute Nachrichten also aus der französischen Peripherie: Während die randalierenden Jugendlichen ein Teil Frankreichs werden wollen, macht das Museum in Vitry mit einer exemplarischen Sammlung zeitgenössischer Kunst der Hauptstadt schon jetzt Konkurrenz. Beides sind untrügliche Zeichen dafür, dass sich Paris, die geografisch so kleine Metropole, urban zur Banlieue hin erweitern wird.

Eberhard Spreng

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