zum Hauptinhalt

Kultur: „Wir sind freier, als wir denken“

Literarisches Gipfeltreffen: Jonathan Safran Foer befragt Jeffrey Eugenides über Familienromane, Weiblichkeit und die Genetik des Schreibens

Jeffrey, eines meiner größten Probleme als Schriftsteller ist, dass mich das Projekt, an dem ich gerade arbeite, leicht ermüdet. Wie ist es Ihnen gelungen, sich so lange einer einzigen Geschichte zu widmen?

Eine der Schwierigkeiten beim Schreiben von „Middlesex“ war, dem ursprünglichen Impuls treu zu bleiben. Ich fühlte mich jung, als ich das Buch anfing, aber eher im mittleren Alter, als ich es beendete. Und dann sind auch noch lebensverändernde Dinge passiert: Mein Vater kam bei einem Flugzeugabsturz ums Leben, und ich selbst wurde Vater.

Und wie sind Sie mit der Ermüdung umgegangen?

Die Struktur des Buches schützte mich davor. Fast jedes Kapitel findet auf einem anderen geografischen oder emotionalen Terrain statt. Nachdem ich mit dem GriechischTürkischen Krieg fertig war, musste ich das Detroit der Prohibitionszeit auferstehen lassen, später widmete ich mich genetischen und sexualwissenschaftlichen Dingen. Ich konnte mit dem Buch wachsen. Aber natürlich gab es auch schmerzhafte Momente. Es muss so etwas wie ein perverses Wohlbehagen mit im Spiel gewesen sein. Jeden Tag wartete Folter auf mich. Das Buch war mein Gefängniswärter, und wir wurden Freunde.

Es fängt wie ein Märchen an – wenn auch als gewalttätiges politisches Märchen – und entwickelt sich zu einer Geschichte über das Erwachsenwerden. Sie haben eine Tochter. Wurde die Entwicklung des Stils von der Entwicklung Ihrer Tochter beeinflusst?

Meine Tochter wurde geboren, als „Middlesex“ halb fertig war. Ihr Einfluss zeigt sich in der Handlung, nicht im Stil. Es gibt eine intensive Auseinandersetzung mit Geburt und fötaler Entwicklung, damit, was Frauen in der Schwangerschaft durchmachen und wie unbeteiligt sich Männer dabei fühlen. In solchen Details sehe ich die Fingerabdrücke meiner Tochter. Nabokov hat gesagt, dass alle großen Romane Märchen sind. Das Buch ist teilweise eine Immigranten- oder Familiensaga, zugleich spiegelt es die Entwicklung der westlichen Literatur, ähnlich wie der „Ulysses“. Da ich über einen genetischen Zustand schreibe, hielt ich es für meine Pflicht, meinem Buch klassische Formen einzuverleiben. Ich wollte, dass „Middlesex“ eine Art romanhaftes Genom ist.

Das ist ein schmaler Grat, nicht wahr? Halten Sie sich für einen postmodernen Schriftsteller?

Ich betrachte mich nicht als großen Postmodernisten. Die Schriftsteller meiner Generation sind rückwärts aufgewachsen. Wir wurden mit der Moderne gepäppelt, und lasen erst später die großen Realisten des neunzehnten Jahrhunderts. Wir fingen mit experi menteller Prosa an. „Middlesex“ dagegen ist in vieler Hinsicht ein altmodisches Buch. Die Verwendung klassischer Motive ist ein Grundbestandteil postmoderner Praxis, das Geschichtenerzählen nicht immer. Ich mag Geschichten. Deswegen lese und schreibe ich. Grace Paley sagt, dass neue Sprache immer und immer wieder aus menschlichen Stimmen erwächst, nicht nur aus neuen Theorien. Wenn es irgendetwas Neues an „Middlesex“ gibt, ist es eine menschliche Erfahrung. Der Erzähler, Cal Stephanides, ist ein real existierender Hermaphrodit, kein mythisches Wesen wie Teiresias und kein fantastisches wie Orlando.

Haben Sie sich schon mal fürs Schreiben geschämt?

Im Sinne von Peinlichkeit? Wie Sie sich denken können, war das einer der schwierigsten Aspekte, als ich die Geschichte meines Hermaphroditen schrieb. In mir steckt etwas von der Prüderie meiner Mutter. Mir fiel es schwer, mich auf die ana tomischen Details meines Helden zu stürzen. Das ist auch ein Grund, warum es ein Familienroman ist. Ich konnte Cals Bewusstsein nicht erforschen, ohne seinen ganzen Clan zu kennen.

Gibt es etwas, das Sie nicht für das Schreiben opfern würden?

Es gibt einen Vers bei Yeats, der mir immer Angst eingeflößt hat: „Vollendung des Lebens oder des Werkes“. Ich dachte, ich wäre nie in der Lage, diese Entscheidung zu treffen, ich wäre nicht diszipliniert, nicht hartnäckig genug. Es klang so schmerzlich asketisch. Aber inzwischen ist mir klar, dass meine Arbeit mein Leben ist. Ich habe dafür nur Dinge geopfert, auf die ich ganz gut verzichten kann: den ausschweifenden Lebenswandel, das männliche Gefühl, „draußen in der Welt“ zu sein, den Büro-Klatsch, die Team-Kameraden. Man kann eine Familie haben und schreiben. Also hat man trotz allem ein Leben, das jenseits des Schreibtischs wartet.

Was soll das bedeuten, ausschweifender Lebenswandel?

So wie Ihrer, junger Mann.

Sie spielen in „Middlesex“ oft auf Nationalepen an, besonders auf griechische natürlich. Mir scheint, dass der größte Einflussbereich moderner Epen – „Ulysses“, „Hundert Jahre Einsamkeit“, „Mitternachtskinder“ – außerhalb ihrer Ursprungsländer liegt. Hatten Sie den Ehrgeiz, ein griechisches Epos für ein amerikanisches Publikum zu schreiben?

Ich wollte schon immer ein großes komisches Epos schreiben, aber in erster Linie die fiktionalen Memoiren eines Hermaphroditen. Das führte mich zu anderen literarischen Hermaphroditen wie Teiresias. Der Hermaphrodismus führte mich zum Klassizismus, der Klassizismus zum Hellenismus und der Hellenismus zu meiner Familie. Ich verwende mein griechisches Erbe, weil es gut funktioniert, nicht andersherum.

Philip Roth und Salman Rushdie scheinen die Eckpunkte Ihrer literarischen Einflüsse zu sein. Richtig?

In einer Rezension wurde „Middlesex“ mit den frühen Romanen von Saul Bellow verglichen. Womit ich einverstanden bin – obwohl es schwerfällt, sich einen Bellow-Roman über einen Hermaphroditen vorzustellen. Ich erwähne das nur, weil sich meine angeblichen Einflüsse ständig ändern. Als „Die Selbstmord-Schwestern“ erschienen, wurde ich in England beschuldigt, zu sehr von Salinger beeinflusst worden zu sein, besonders von „Franny and Zooey“. Dabei hatte ich das Buch noch gar nicht gelesen. Literarischer Einfluss hat etwas von Genetik. Rushdie schuldet seine Feuerwerke Günter Grass und Gabriel García Márquéz. Márquez hat einiges von Kafka und Faulkner. Im Fall von „Middlesex“ habe ich von allen diesen Vorfahren etwas geerbt, den guten alten Homer nicht zu vergessen. Trotzdem: Völlig anderer Gen-Pool. Ich will diese Einflussgeschichte nicht zu weit treiben. Ich liebe Henry James, aber ich bin ihm nicht sehr ähnlich. Immerhin bin ich mit 16 schon auf Empfängen gewesen. Wir haben hinter den Büschen Gras geraucht, im Smoking. Sehr James-esk.

Es gibt eine Tradition, die Kreativität mit Drogenkonsum assoziiert. Ich habe mich oft gefragt, ob Künstler Drogen nehmen, weil sie denken, dass sich das so gehört. Ich meine nicht den gelegentlichen Joint, sondern das gefährliche Zeug. Wenn man so wichtig sein will wie Jackson Pollock, sollte man auch genau so verkommen sein. Das gleiche gilt für Depressionen. Ich kenne viele Leute, die denken, dass künstlerische Kreativität aus Kummer geboren wird. Ich halte das Gegenteil für wahr.

Man wird nicht talentiert, indem man die Schwächen talentierter Künstler annimmt. Pollock war ein großer Künstler, aber nicht wegen, sondern trotz seiner selbstzerstörerischen Gewohnheiten. Viele Menschen trinken zu viel. Aber nur wenige von ihnen sind gute Maler. Das Gleiche gilt für Depressionen. Depressive Menschen, die gut schreiben, schaffen das nur, indem sie ihre Depressionen bekämpfen. Ich schreibe am besten, wenn ich glücklich bin. Aber man braucht Jahre, um einen Roman von 530 Seiten zu schreiben, und man kann nicht jeden Tag guter Laune sein. Also muss man lernen, in jeder beliebigen Laune schreiben zu können.

Ist Middlesex ein historischer Roman?

Historische Romane spielen ausschließlich in der Vergangenheit. „Middlesex“ reicht in die Gegenwart hinein. Ich hoffe, es ist mir gelungen, mit einer gewissen Leichtigkeit und einem Sinn für komische Selbst-Dramatisierung die Verstaubtheit historischer Romane zu mildern. Dennoch habe ich mich bemüht, akkurat mit historischen Ereignissen umzugehen, von der Vertreibung der Griechen und Armenier durch die Türken 1922 in Smyrna bis hin zu den Detroiter Unruhen von 1967. Ich habe viel Zeit in Bibliotheken verbracht. Ich habe Museen besucht, um mir anzusehen, was für Radios die Menschen um 1932 benutzt haben. Einer der schönsten Aspekte des Buches war, dass ich so meine Großeltern besser kennen lernte. Meine Großeltern sind gestorben, als ich noch relativ jung war.

Ein Teil des Romans beschäftigt sich mit der Debatte Vererbung oder Milieu. Wie wirkt sich das aus?

Ich bin in den Unisex-Siebzigerjahren aufgewachsen. Jeder war überzeugt, dass Persönlichkeit und geschlechtsspezifisches Verhalten von der Erziehung abhing. Sexforscher und Feministinnen bestanden darauf, dass jedes Kind ein unbeschriebenes Blatt sei. Jetzt ist es genau umgekehrt. Biologie und Genetik werden als die bestimmenden Faktoren angesehen. Nachdem ich den Untergang der ersten Vereinfachung erleben durfte, prophezeie ich den Untergang der aktuellen. Im Moment überschätzen wir die Rolle, die die Gene bei der Beeinflussung unseres Schicksals spielen. Zwischen den Alternativen Milieu und Vererbung argumentiere ich für einen Mittelweg. Das ist eine der offensichtlichen Bedeutungen des Titels. Es ist eigentlich ein sehr amerikanisches Konzept – der Glaube an Individualität, an Freiheit. Ich glaube, wir sind freier, als wir denken. Die Wissenschaftler sind davon ausgegangen, sie würden 200000 Gene im menschlichen Genom finden. Stattdessen fanden sie nur ungefähr 30000. Nicht viel mehr als bei einer Maus. Wie wurden wir zu dem, was wir sind? Das Rätsel ist ungelöst.

Fühlen Sie sich manchmal feminin? Haben Sie sich jemals feminin gefühlt?

Der männliche Autor eines Romans über einen Hermaphroditen kommt gar nicht umhin, diese Frage affirmativ zu beantworten. War das jetzt diplomatisch genug? Meine Eltern hatten bereits zwei Söhne vor mir. Sie wollten, dass ich ein Mädchen werde. Sie hatten sogar schon einen Mädchennamen für mich ausgesucht: Ich sollte Michelle heißen. Ich erinnere mich, wie ich, als ich klein war, dieses Beatles-Lied „Michelle“ hörte, und darüber nachdachte, ohne dass es dramatisch gewesen wäre. Wussten Sie, dass Hemingway bis zum Alter von elf Jahren als Mädchen angezogen wurde? Man könnte sagen, dass er das später überkompensiert hat. Als ich dreizehn oder vierzehn war, war ich sehr hübsch. Wenn ich mit einer Gruppe von Mädchen unterwegs war, fragte uns meist irgendeine Mutter: „Möchtet ihr was trinken, Mädels?“ Bellow sagt in „Humboldts Vermächtnis“, Dichter sein sei „ein Schul-Ding, ein Kleider-Ding, ein Kirchen-Ding“. Also würde ich sagen, dass man, um Schriftsteller zu sein, etwas Weibliches an sich haben muss.

Die bildende Kunst hat mein Schreiben mehr beeinflusst als die Literatur. Ihres auch?

Die bildende Kunst hat mein Schreiben nicht mehr beeinflusst als die Literatur. Bei „Middlesex“ hatte ich allerdings zwei visuelle Modelle im Kopf. Eins davon ist das Innere einer griechisch-orthodoxen Kirche. Vergoldete Interieurs, überall Ikonen, Gesichter, wo man hinsieht. Dunkle Ecken mit brennenden Kerzen. Der Lärm von Leuten, die sich während des Gottesdienstes unterhalten. Und das große Gesicht von Christus Pantokrator, dem Allherrscher, auf dem Dom. Das andere Bild war das Diego-Rivera-Wandgemälde von 1932 im Detroit Institute of Arts, das die Automobilindustrie darstellt. Ich bin mit dem Anblick aufgewachsen und es hat immer noch eine totemische Macht über mich. Lange nachdem ich begonnen hatte, „Middlesex“ zu schreiben, habe ich es mir noch einmal angesehen. Meine Aufmerksamkeit hatte immer dem Fließband und den Schornsteinen auf den unteren Paneelen gegolten. Aber plötzlich sah ich nahe der Decke die vier Rassen. Rivera hatte sie als Hermaphroditen dargestellt.

Jemand hat mal gesagt, dass jedes Buch eine Antwort auf das vorhergehende ist. Welche Antwort fordert „Middlesex“?

Etwas Kurzes. Ich arbeite an einem Buch über Berlin, als Teil der Bloomsbury -Reihe „The Writer and the City“.

Aus dem Amerikanischen von Jens Mühling.

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false