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Kultur: „Wir sind historische Tiere“

Der Fotograf Gilles Peress war am 9. November in Berlin – und am 11. September in New York

Monsieur Peress, Sie ...

Ich schlage vor, dass ich Ihnen zunächst ein paar Dinge erkläre. Dann können Sie Ihre Fragen stellen.

Wie Sie wollen.

Normalerweise rede ich nicht viel, gebe kaum Interviews. Seit den Sechzigerjahren, als ich mich selbst als Aktivist verstand, aber die Lücke sah, die sich zwischen den Worten und der Wirklichkeit auftat, habe ich eine Abneigung gegen Worte.

Sie haben einmal gesagt, Sie trauen den Worten nicht, Sie trauen nur Bildern.

Richtig. Ideen werden in dem Zwischenraum dessen, was wir wissen, und dem Unbekannten geboren. Dieser Raum interessiert mich. Deshalb bin ich Fotograf geworden. Und der Unterschied zu Reportern wie James Nachtwey besteht in meiner Weigerung, mit Medien zusammenzuarbeiten. Ich misstraue ihnen, sie sind so limitiert – durch Werbung, Umfang, Verträge und Verstrickungen. Sie machen uns zu Opfern des Kontexts. Außerdem brach just, als ich anfing, die Krise aus. Drei Wochen, nachdem ich bei „Life“ eingestiegen war, wurde das Magazin eingestellt. Ich habe den Journalismus nur benutzt, um Dingen ausgesetzt zu sein, denen ich anders niemals begegnet wäre. Wenn mich aber ein Problem fesselt, kehre ich immer wieder zu ihm zurück. Ich bin ein Zeuge. Mich interessiert das Niemandsland, in dem es keine Kategorien gibt. Alle meine Projekte erforschen dieses Zwischenreich. Deshalb brauche ich Zeit, und aus demselben Grund kam ich 1989 nach Berlin...

Einen Tag vor dem Mauerfall. Das konnten Sie aber damals nicht wissen.

Aber natürlich. Jeder wusste, dass so etwas passieren würde! Oder glauben Sie, dass all die ausländischen Fernsehsender innerhalb weniger Stunden in der Lage gewesen wären, mit großen Übertragungswagen am Brandenburger Tor aufzukreuzen, wenn die nicht gewusst hätten, was auf sie zukommt? Was niemand voraussehen konnte, war, was auf den Fall der Mauer folgen würde. Das 20. Jahrhundert endete an diesem Tag. Die Ära des dialektischen Prozesses ging in etwas radikal Anderes über.

Auf den Bildern, die Sie nach dem 9. November gemacht haben, sieht man fröhliche Menschen. Das Ende des Jahrhunderts – ein Freudenfest?

Die Deutschen waren voller Hoffnung. Jeder Europäer war das. Heute fragen wir uns allerdings, wie wir einer gallischen Dorf-Struktur entfliehen konnten, dem Kalten Krieg, nur um uns in einer anderen wiederzufinden: dem clash of civilizations.

Waren Sie sich 1989 der Konsequenzen des Zusammenbruchs bewusst?

Überhaupt nicht. Es gibt in Stendhals Roman „Die Kartause von Parma“ eine Figur namens Fabrice del Dongo. Der kämpft in der Schlacht von Waterloo, um ihn herum Pulverdampf, eine Armee wird vernichtet. Aber er hat nicht die geringste Vorstellung davon, wie monumental dieser Geschichtsmoment ist. Wir sind historische Tiere. Wir können unserer Lage nicht entrinnen. Geschichte ist ein Autor. Sie spricht. Kameras wie meine, die in dem Bemühen benutzt werden, die Welt zu verstehen, nehmen nur winzige Bruchteile wahr. Weshalb ein Bild für mich ein offener Text sein und eine Ausstellung den Zuschauer partizipieren lassen sollte. Ich mag es nicht, wenn Bilder bestimmen, wie die Realität ist. Sehen Sie, ich mache meine Bilder, um Gegensätze sichtbar zu machen. Früher war es üblich, ein Bild nur einer Sache vorzubehalten: einer Frau in der Sahara, verhungernd. Man sagte: So sieht die Welt aus, und wir zeigen sie euch genau so. Auf meinen Bildern sieht man eine Ansammlung von Objekten, die nicht zueinander passen: eine Frau, die weint, eine andere, die lacht.

Haben Sie ein Auge für die Schönheit solcher Momente?

Sagen Sie es mir! Ich tue mir und meiner Familie das alles an, um zu verstehen. Fotos sind für mich ein Weg der Selbstaufklärung. Ich muss Momente formalisieren, sonst bleibe ich ratlos gegenüber der Geschichte.

Sie haben in Bosnien und Ruanda entsetzliche Greueltaten erlebt und auch dokumentiert. Haben Sie da die Logik ethnischer Säuberungen verstanden?

Was einem in Bosnien zu verstehen am schwersten fiel, war unsere Passivität. In Europa wurde lamentiert: Oh, ein Genozid, was sollen wir tun? Ich kann diese Indifferenz gegenüber der Geschichte nicht begreifen. Einmal, als in Sarajewo eine Weile lang nichts mehr passiert war, eilte ich nach Hoyerswerda, wo Neonazis gerade versuchten, Immigranten umzubringen. Solche Gewaltausbrüche sind durch die europäische Geschichte miteinander vernetzt. Aber die Europäer haben ein sonderbares Verhältnis zur eigenen Vergangenheit. Es erlaubt ihnen, das Unerträgliche erträglich zu finden.

Um Konflikte optisch zu strukturieren, greifen viele Fotografen auf eine „Story“ zurück. Sie machen genau das Gegenteil.

Weil ich strategisch denke. Ich sehe nicht Ereignisketten, sondern Felder, in denen vieles parallel geschieht. Was mich von Kollegen wie Nachtwey unterscheidet: Ich suche nicht nach dem perfekten, dem einen Bild. Ich umkreise eine Sache vielmehr und setze sie hinterher wie eine kubistische Struktur zusammen.

Dachten Sie angesichts der Massenmorde in Bosnien und Ruanda nie: Das reicht jetzt, das ist zuviel, um es mir weiter anzutun?

Niemand will solche Dinge sehen. Aber ist es nicht erst recht zuviel, dass wir hier gemütlich ein Wiener Schnitzel verdrücken, während 600 Kilometer weiter südlich ein Völkermord stattfindet? Mein Selbstschutzmechanismus ist nicht sehr ausgeprägt. Ich sehe mich als eine Art Paketbote in einem größeren Prozess. Bei meiner Arbeit steht die Kamera nur am Beginn. Als ich nach dem Genozid aus Ruanda zurückkehrte, brauchte ich sechs bis acht Monate, in denen ich zwischen all den Bildern lebte. Ich arbeitete mit ihnen. Ich wollte eine Struktur finden, eine Ähnlichkeit der Motive entdecken, durch die ich mir das Geschehen erklären konnte. Das war der Moment, in dem es mich traf.

Wer Ihre New-York-Bilder vom 11. September 2001 kennt, wundert sich, wie nah Sie mit der Kamera an die Menschen herangehen. Sind Sie je zu persönlich geworden?

Ich weiß darauf keine Antwort. Am 11. September ging ich einfach immer näher an das World Trade Center heran. Die Polizisten waren längst verschwunden oder ignorierten mich, diesen verrückten Kerl, überall war nur Staub und Qualm. Alles, was ich sah, waren ein paar Feuerwehrleute. Ich verstehe mich nicht als Einzelkämpfer, sondern als Teil eines Kollektivs. Und natürlich war ich zu nahe dran, zu persönlich. Deshalb interessiert es mich nicht, die Fotos zu verkaufen. Heutztage wird unser Bild von der Wirklichkeit durch Fernsehgeräte und Radios geprägt. Sie fragmentieren die Gesellschaft in viele Einzelwesen, die mit ihren Problemen allein bleiben. Es gibt kaum einen Ort, an dem die Bürger zusammenkommen, um sich auszutauschen: wie die Griechen auf der „Agora“, ihrem Marktplatz. Das Museum ist für mich der einzige öffentliche Raum, der das leisten könnte. Wenn ich nun in Berlin meine Mauer-Bilder zeige, dann beanspruche ich für mich kein Monopol. Ich mache eine Installation. Die Leute, die vor 15 Jahren ebenfalls da waren, dürfen ihre Bilder neben meine hängen, dürfen Kommentare dazuschreiben.

Ich habe damals auch am Lenné-Dreieck gestanden und die Demontage der Mauer fotografiert.

Sehen Sie.

Aber ich bin ein Amateur.

Ich bin auch ein Amateur.

Das Gespräch führte Kai Müller

1946 Neuilly bei Paris geboren, zählt Gilles Peress zu den wichtigsten Kriegs- und Krisenfotografen der Gegenwart. Er ist seit 1974 Mitglied der Agentur Magnum und lebt in New York.

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