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Kultur: Wir sterben um die Wette

Öffentlicher Selbstmord: Wie eine Multimedia-Performance in der Parochialkirche das letzte Tabu bricht

Als Nummer drei nach vorne tritt, entkleidet er seinen schönen Oberkörper. Er lächelt über die Hässlichkeit seiner Konkurrenten. Der eine liegt mit zerschmettertem Schädel in der Arena. Der andere baumelt an einem Strick. Nummer drei wählt den Dolch: „Er stieß ihn mit einer kurzen Bewegung ins Herz, riss ihn wieder hervor und lag da ohne einen Laut im Strom seines Blutes.“

So jedenfalls will es ein Zeitungskorrespondent erlebt haben, als er 1921 Zeuge eines „Selbstmörderwettbewerbs“ wurde. Und so will es auch die Multimedia-Performance des Künstlers Christian Barthelmes, der den alten Text ausgegraben und seiner Installation in der Parochialkriche zu Grunde gelegt hat. Auf vier einander zugewandten Leinwänden sieht man bleiche, mit Tüchern bekleidete Kindergestalten wandeln. Sie tragen Male am Körper und Tattoos: Symbole aus Dolch, Axt und Revolver. Sie schauen den Betrachter stumm an, mit großen, tiefen Blicken. Vorwurfsvoll? Es sind Verlorene. Und vielleicht sind es die Toten, die nie ein Leben hatten. Oder die Lebenden, die schon gestorben sind.

Selbstmörder sind rätselhaft. Ist es Fatalismus, der sie in den Tod treibt und das zu einer leichten Geste macht? Oder Qual, die zum heroischen Ende drängt? Ist es ein Manifest der Befreiung, eine letzte Behauptung des selbstbestimmten Individuums gegen die Übermacht der Welt? Motive interessieren den Zuschauer eines Wettbewerbs nicht. Einzig: Sie werden es tun. Und: Dem Besten von ihnen wird ein Denkmal errichtet.

Dass Menschen zu allem bereit sind, wenn es ihnen Aufmerksamkeit beschert, wusste schon Johannes Ilmari Auerbach. In einem fingierten Zeitungsdossier ließ er vor über achtzig Jahren einen Milliardär zum öffentlichen „Selbstmörderwettbewerb“ aufrufen – mit strengen Regeln. Wer es sich anders überlegte und sich doch nicht umbringen wollte, wurde hingerichtet. Die Selbsttötung sollte wehtun, bewusst erlebt und gelassen ausgeführt werden, so sah es der Kriterienkatalog vor. Die Jury: Zwei Psychiater (beurteilten die Leidensqualität), ein Jurist (überwachte die Vertragserfüllung), ein Künstler (achtete auf die Darbietung), ein Arzt (stellte den Tod fest), ein Japaner (als Harakiri-Spezialist). Schaulustige labten sich an dem Spektakel, die Vorführung der zwölf Todeskandidaten zog sich über Stunden hin.

Der Text des erst 22-jährigen Auerbach war für seine Zeit außergewöhnlich: Denn in der gängigen Literatur um die Jahrhundertwende wurde der Selbstmord meist als Handlung besonders zartfühlender und genialer Menschen dargestellt. Historisches Vorbild: Goethes Werther, der sich aus Liebeskummer ins Herz schoss. Ein anderer Fall machte 1903 Furore: Als der 23-jährige Nachwuchswissenschaftler Otto Weininger bei Sigmund Freud mit seinem Dissertationsmanuskript vorstellig wurde, verweigerte ihm dieser die erbetene Hilfe. Der Gekränkte erschoss sich wenig später in Beethovens Sterbehaus – ein Paradebeispiel des juvenilen, zarten Intellektuellen, der der Unerträglichkeit des Lebens entflieht.

Ganz anders ist der reißerische, antiromantische Stil von Auerbachs Zeitungsreportage. Das nur 29 Seiten umfassende Dossier ist ein Manifest gegen die Entwürdigung des Menschen und die Verletzung der Intimität durch voyeuristische Gier. Über Johannes Ilmari Auerbach ist nur wenig bekannt. Aufschluss über sein Leben geben einzig hunderte von Briefen an seine Mutter, die 1989 als Autobiografie herausgegeben wurden. Der 1899 in Breslau geborene Auerbach war Bauhausschüler, Bildhauer und Maler, künstlerisch aber nie erfolgreich. Seiner jüdischen Herkunft wegen musste er 1936 nach England fliehen, zuvor war er mehrmals in Folterhaft der Gestapo und ins KZ Fuhlsbüttel gekommen. Nach dem Krieg erhielt Auerbach eine Professur für Bildhauerei in Oxford, wo er 1950 starb. „Der Selbstmörderwettbewerb“ ist sein einziger bekannter literarischer Text, geschrieben nach einem eigenen missglückten Selbstmordversuch – er hatte versucht, sich zu erschießen. Auerbach nimmt eine Medienkritik vorweg, die erst durch Neil Postmans „Wir amüsieren uns zu Tode“ populär wurde.

„Prophetisch!“, dachte denn auch Christian Barthelmes, Jahrgang 1963, als er vor vier Jahren auf Auerbachs Büchlein aufmerksam wurde. Der Text erklingt nun aus dem Off, gesprochen von einer rauen Männerstimme, während das Publikum auf Matten sitzend dem mystischen Bilderfluss folgt. Zwischen Entsetzen und morbider Faszination lauscht man dem Gemetzel, stellt sich vor, wie einer nach dem anderen sich erschießt, erhängt und mit einem Beil traktiert. So grotesk grausam ist das, dass sich vereinzelt Gelächter löst. Die Bilder illustrieren den Text allerdings nicht, sondern ergänzen ihn um die These: Beim Selbstmörderwettstreit geht es nicht um Selbstmord, sondern um den Tabubruch.

Dieser sei, so Barthelmes, heute in den Medien so selbstverständlich geworden, dass er kaum noch auffällt; insbesondere das Fernsehen ziehe täglich die Würde des Menschen durch den Dreck und in den Redaktionen herrsche genau die „perfide, sadistische Art und Weise“, die auch den Tonfall der Textvorlage prägt. Gegen diese Erregungskultur setzt er visuell die Stille des stummen Zeugen, die Emphase des Stilllebens. Krankt unser Mitleidsbewusstsein doch an einer Schaulust, die in Nachmittagstalkshows befriedigt wird und danach verlangt, „völlig zerrüttete Existenzen vorgeführt zu bekommen“ (Barthelmes). Und das zu einer Tageszeit, in der nach seiner Meinung eine „finanziell potente und verführbare Gruppe“, Kinder und Jugendliche, vor dem Bildschirm sitzt. So wähnt der Künstler den „Verkauf der Kindheit“ heraufziehen. „Ich kenne kein Kind, das nicht zutiefst medialisiert ist“, sagt er, „die erleben alle diese ausgelieferten Kreaturen, die eingekauft werden, um sich zu entblößen“. Die größte denkbare Entblößung ist auch heute noch, sich öffentlich und vor laufender Kamera umzubringen.

Es scheint undenkbar, dass Menschen ihren Selbstmord als Medienspektakel inszenieren. Andererseits verstehen wir nicht mal, warum sie überhaupt freiwillig in den Tod gehen. Es bleibt ein Mysterium. Aber eines, das den Blick hinter die Schreckensfassade braucht.

„Selbstmörderwettbewerb“, Parochialkirche (Klosterstr. 66/67, Mitte), bis 14. Juli, tgl. 22–02 Uhr.

Julia Hellmich

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