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Kultur: Wirbelstürme in Problemzonen

Engagiert, wagemutig, Antipop: Die jüngere deutschsprachige Literatur ist so gut und vielgestaltig wie lange nicht

Ein Computerspieleerfinder stellt einer Biografienschreiberin wie ein Stalker nach, bis in ihre Wohnung hinein. Die Biografienschreiberin besichtigt gern leere Wohnungen, um dann von den Maklern den Schlüssel für eine Nacht zu bekommen. Sie verliebt sich in einen schwulen Architekten, und als ihre Beziehung in die Brüche geht, nimmt der schwule Architekt einen Bauarbeiter als Gefangenen, weil dieser ihn als „Schwuchtel“ beleidigt hat. Schon bald stellt sich heraus, dass der Bauarbeiter unter falschem Namen unterwegs ist.

Vier Mittdreißiger lässt Frank Heibert in seinem Debütroman „Kombizangen“ auf solcherart ungewöhnliche Weise sich begegnen, und zwar in einschlägigen Bezirken von Berlin, in Kreuzberg, Mitte oder Friedrichshain. Das hat was von Marienhof, da winkt genauso ein Thomas Harris freundlich herüber, das wird jedoch reizvoll dadurch, dass dieses Berlin, das Heibert maßstabsgetreu nachpinselt, das Berlin des Jahres 1995 ist. Es dauert zwar eine Weile, bis das ersichtlich wird, dann aber ergeben das Basteln der vier Protagonisten an ihren Lebensentwürfen und ihr Irrlichtern durch Berlin eine Menge Sinn. Wie die Stadt, in der sie leben, sind sie auf der Suche nach sich selbst, nach ihrem Platz in einer Welt, in der alles möglich scheint, in der Improvisieren und Experimentieren oberstes Gebot sind.

Mögen die neunziger Jahre eine Ewigkeit her sein, mögen Berlin-Romane gerade keine Konjunktur haben: Frank Heibert, von Haus aus vorzüglicher Übersetzer von beispielsweise Don DeLillo, Richard Ford, Amos Oz, hat sich zu Herzen genommen, dass das besondere Kennzeichen von Literatur ihre Nachträglichkeit ist (Wilhelm Genazino), dass sie ein Modus der Geschichtsverarbeitung ist. Damit befindet er sich in diesem Herbst in guter Gesellschaft. Denn die jüngere deutschsprachige Literatur bietet ein vielgestaltiges Bild wie lange nicht. Sie hat massiv auf jüngere weltpolitische Entwicklungen reagiert, entzieht sich aber genauso massiv einem bestimmten Themen- und Aktualitätsdruck.

Ist es noch gar nicht so lange her, dass man sich schwor, mindestens eine Saison mit dem Lesen von jüngerer deutschsprachiger Literatur auszusetzen, so führte in diesem Herbst kein Weg an ihr vorbei. Natürlich waren die ersten, meistdiskutiertesten oder gar mit einem Buchpreis ausgezeichneten Bücher jene, die explizit den 11. September und seine Folgen mitverhandelten. Also Katharina Hackers „Habenichtse“ (Deutscher Buchpreis), Thomas Hettches „Woraus wir gemacht sind“ (Deutscher Buchpreis knapp verfehlt) und Christoph Peters’ Terroristen-Roman „Ein Zimmer im Haus des Krieges“. Dazwischen schlich sich Saša Stanišic’ Jugoslawienkriegs-Roman „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ (Deutscher-Buchpreis-Gewinner der Herzen).

Doch findet man in der diesjährigen Herbstproduktion noch viel mehr Lesenswertes von Autoren und Autorinnen, die derselben Generation wie Hacker oder Hettche entstammen, der zwischen 1960 und 1970 Geborenen, die diesen in puncto erzählerisches Handwerk in nichts nachstehen und darüber hinaus gleichfalls mit dritten oder vierten Büchern im Begriff sind, sich zu etablieren. Auffallend ist, dass diese Romane die Generation der 35- bis 45-Jährigen ins Visier nehmen, dabei aber nicht nur das Hier und Jetzt reflektieren, sondern sich Zeitenwenden nicht verschließen, wie etwa dem Fall der Mauer.

Gregor Hens erzählt in seinem dritten Roman „In diesem neuen Licht“ von mehreren beruflich zwar gesettelten, aber in schwierig-verworrenen Beziehungsverhältnissen lebenden Spätdreißigern. Und nicht nur davon: Hens weiß auch, was aus einigen von ihnen in vierzig, fünfzig Jahren wird, und er montiert in sein Buch Auszüge aus D. H. Lawrence’ Mexiko-Roman „Quetzalcoatl“, den einer seiner Protagonisten übersetzt. So vermengen sich hier kunstvoll die Zeiten und die Leben von Lawrence, seiner Frau, zwei ihrer Bekannten und den verschiedensten Romanfiguren, allesamt vereint durch Freundschaft, Wirrniss und Verrat.

In die Reihe „Liebe, Politik und Gesellschaft“ passt Jörg-Uwe Albigs Roman „Land voller Liebe“. Dieser spielt zur Zeit der Wende, die hier aber nicht von Leipzig ausgeht, sondern von Hamburg, Stuttgart oder Karlsruhe. Auch die Bundesrepublik hat es bitter nötig gehabt, unterzugehen, glaubt man Albig, und so kaputt wie das Land, so kaputt waren seine Bewohner. Albig erzählt von dem Unternehmensberater Roger Beeskow, der auf einer karibischen Insel einem deutschen Investor helfen soll, plötzlich aber nur noch die eigene emotionale und physische Leere spürt und sich aus der Ferne an die Erinnerungsarbeit macht: „Wir wussten, dass Liebe besser war als Krieg. Also machten wir Liebe wie einen Krieg, mit verbrannter Erde, Schmetterlingen im Bauch, Wirbelstürmen in Problemzonen, ohne Rücksicht auf Verluste“.

Jakob Arjouni wiederum, inzwischen nicht mehr nur bekannt als Autor der tollen Frankfurter Kayankaya-Krimis, sondern auch als Fachmann für gezielte Polit-Provokationen, man denke nur an das 68er-Bashing in seinem letzten Roman „Hausaufgaben“, beschäftigt sich in seinem jüngsten Roman „Chez Max“ mit der neuen Weltordnung nach dem 11. September. Das aber in einer sehr fernen Zukunft, dem Jahr 2068, da die Welt aus einer euroasiatischen Zone, den inzwischen de-industrialisierten USA und dem völlig heruntergekommenen Rest besteht. Eine Geheimdienstorganisation namens Ashcroft sorgt dafür, dass Arm und Reich sich nicht ins Gehege kommen, und verfolgt orwellhaft „Angriffe auf die euroasiatische Wertegemeinschaft“. Viel interessanter als dieses etwas flapsige Sci- Fi-Scenario aber ist, wie Arjouni das Duell von zwei Ashcroft-Mitarbeitern schildert, die beide nicht die sind, als die sie zunächst erscheinen. Die moralisch suspekte, ungeheuer armselige Figur ist am Ende Max, Arjounis Ich-Erzähler. Nach dem schrecklichen 68er-Lehrer Linde in „Hausaufgaben“ beweist Arjouni wieder einmal, wie gut er es versteht, in die Rolle von zwielichtigen Personen zu schlüpfen.

Man kann nun auch herumkritteln, dass „Chez Max“ eine Idee zu obenhin und unverdichtet erzählt ist, dass Arjouni viel reinpackt in seine Non-Kayankaya-Romane, es aber häufig an Tiefenschärfe fehlen lässt. Man kann Heibert dafür schelten, dass „Kombizangen“ etwas zu wenig Tempo hat, er sich mitunter in einer wahren Beschreibungsflut verliert. Ja, man findet auch bei Hens eine Konstruktion, die manchmal arg knarrt und over the top ist, oder bei Albig trotz aller sprachlicher Intensität so manches schiefes Bild.

Man kann sich dann aber keinem der Romane und ihrer aufgeworfenen Thematik entziehen und spürt, dass die Autoren ihre Geschichten genauso und nicht anders erzählen konnten. Es ist dies eine Literatur, die über Unterhaltung und Konsum hinausgeht, die engagiert ist, wagemutig, Anitpop, und die weiß, dass das Schicksal des Einzelnen nie losgelöst von gesellschaftlich-politischen Umwälzungen betrachtet werden kann. Auch Annette Pehnt liegt da mit ihrem Roman „Haus der Schildkröten“ goldrichtig. Dieser ist vielleicht nicht gleich der ultimative Roman zur Demografiedebatte, aber Pehnt erzählt doch gekonnt und leise eine genauso deprimierende wie würdevolle Geschichte vom Mit- und Gegeneinander der Generationen. Sie begibt sich in die Welt der Seniorenwohnheime, die Stätten der Ausgrenzung und der Demenz sein mögen, in „Haus der Schildkröten“ aber auch das Leben der Vierzigjährigen ganz ordentlich mitbestimmen.

Trost gibt es hier keinen, und die Realität sind eben nicht nur die quicklebendigen, in der Welt herumreisenden Alten, sondern auch die, die im Abseits den Rest ihrer Existenz verbringen. Punkte auf der Bestsellerliste kann man mit solchen Romanen nicht machen – geschrieben werden müssen sie trotzdem, gerade von jüngeren Autoren. Ein Martin Walser muss schließlich nicht das Vorrecht besitzen, über das Alter zu schreiben.

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