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Kultur: Wirklichkeit? Wahnsinn!

Spuren lesen: zur 26. Duisburger Dokumentarfilmwoche

In der Filmtheorie gilt die Frage nach der Authentizität des Abgebildeten schon lange als Ausweis unverbesserlicher Naivität. Im populären Umgang mit medialen Bildern jedoch wird sie immer noch gerne als Qualitätskriterium bemüht. Gerade bei den um solche Qualität ringenden Programmplanern des Fernsehens zählt das Authentische zu den Werten, die es im Wettstreit der Formate zu befördern heißt. Denn ist die neue Lust am Dokumentarischen nicht auch Reflex einer Sehnsucht nach dem unverstellten Ausdruck von Wirklichkeit?

Wie funktioniert Authentizität eigentlich? Nach welchen Regeln wird sie hergestellt? Fragen, die – aufs Fernsehen gemünzt – einer Sonderreihe der diesjährigen Duisburger Dokumentarfilmwoche zu Grunde lagen. Denn das Authentische, ursprünglich ein bürgerlicher Kampfbegriff aus dem 18. Jahrhundert, ist in seinen Formen immer noch wandelbar. Dabei ist auffällig, dass die Ansprüche an die Echtheitsgarantie der Bilder und Töne steigen, je skeptischer die Medien sich selbst gegenüber geworden sind. Wo das pure Bild nichts mehr gilt, muss der Mensch selbst ran. So macht der Filmwissenschaftler Rainer Vowe seit Anfang der Neunziger einen Trend aus, der die filmische Enthüllung durch individuelle Selbstoffenbarungen als Authentizitätsstrategie ersetzt und in Guido Knopps Zeitzeugen-Opern mündet. Das Geständnis anstelle des Kommentars: Zeugenschaft als oberste Wahrheitsinstanz. Schließlich ist jeder Radio-Anderthalbminüter heute zum „O-Ton“ verpflichtet.

Kein Wunder, dass es zwischen Fernsehpraxis und Filmwissenschaft nicht zum Dialog kam. Doch ansonsten regierte auch bei der 26. Ausgabe des bedeutendsten Forums für den deutschsprachigen Dokumentarfilm das lebendige und streitbare Wort. Neben den Filmen selbstverständlich, die diesmal sehr viel privater daherkamen als letztes Jahr. Die Frage nach dem Erkenntniswert persönlicher Erfahrung drängte sich auch hier auf und wurde sehr unterschiedlich beantwortet: Katrin Eißing inszeniert in „Auf demselben Planeten“ die eigene Leidensgeschichte als bildungsbürgerliches Familiendrama: Vorwürfe und blinde Flecken, Süchte und Ausflüchte, eine höchst ambivalente Vaterfigur und eine hilflose Mutter. Auch die Filmemacherin agiert distanz- und hilflos in der Doppelrolle als Betroffene und Therapeutin. Man mag ihr gerne glauben, dass es ihr nach dieser „Aufräumarbeit“ besser geht, doch warum sollte uns diese Geschichte interessieren? Irritierend auch der Begriff von Normalität, der unausgesprochen Ästhetik und Dramaturgie des Films grundiert.

Ähnlich und doch ganz anders ein agitatorischer Film, der Therapie nicht ersetzen will, doch auf ihre Mühen und ihre Arbeitsweise aufbaut. In Maria Arlamovskys „Laut und deutlich“ berichten fünf Frauen und ein Mann über ihre Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch in der Familie. Hier ist Zeugenschaft auf die Grundkonstellation reduziert. Auf der einen Seite die Kamera, auf der anderen die nüchtern auskunftgebenden Opfer. Deren Wort zählt, sonst nichts. Während „Laut und deutlich“ sich fast fundamentalistisch auf die Glaubwürdigkeit seiner Zeugen verlässt, interessiert sich „schlittenschenken“ von Erwin Michelberger und Oleg Tscherny erstmal für die Ungewissheiten der Rekonstruktion. Behutsam wird aus vielen Schnipseln ein Bild der unter mysteriösen Umständen ermordeten Schriftstellerin Renate Neumann entworfen. Die Frage nach den Todesumständen bleibt offen, auch sonst ist das notwendig Fragmentarische solcher Annäherungsversuche immer mitgedacht. Für seine vorsichtigen Deutungsangebote wurde „schlittenschenken“ mit dem Arte-Preis für den besten deutschen Dokumentarfilm ausgezeichnet.

Viel breitspuriger macht sich Nikolaus Geyrhalter mit seiner filmischen Weltreise „Elsewhere“ der Wirklichkeit auf die Spur: Exakt ein Jahr lang ist der Filmemacher zur Jahrtausendwende um die Welt gereist, zu indigenen Völkern außerhalb der Städte. Einen Ort pro Monat hat er besucht, das Ergebnis zu zwölf Episoden von insgesamt vier Stunden Länge zusammengeschnitten. Logistisch eine Wahnsinnstour. Filmisch ein strukturalistischer Rundumschlag, der exotische Reize naturgemäß reichlich bietet und seine Protagonisten mit Lust in Zeit und Raum platziert. Aufkommender Ethno-Romantik wird aber schon durch die Realitäten entgegengesteuert: Gerade die scheinbar entlegensten Welten werden von den industriellen Zentren als Labor und Müllabladeplatz missbraucht. Der sibirische Rentier-Hirte und Fischer muss mit dem Helikopter vor der zunehmenden Ölverseuchung fliehen. Und die Südseeinsulaner von Falalap werden zu Weihnachten mit einem abgeworfenen „Christmas Drop“ aus abgetragener Erste-Welt-Kleidung und anderem Zivilisations-Müll beglückt.

Auch der Filmemacher Peter Mettler geht auf Weltreise, auf die Suche nach der Suche nach dem Sinn. Eine transzendentale Reise, die zum Glück immer auch beim Konkreten bleibt: drei Stunden nüchterne Bestandsaufnahme und gleichzeitig die Hingabe an eine suggestive audiovisuelle Symbiose unterschiedlichster Welten. Delirierende Christen und Drogenkonsumenten, Naturschönheit und einstürzende Hotelfassaden, Las Vegas und Indien – „Gamblin, Gods and LSD“. Der 3sat-Jury war diese schweizerisch-kanadische Koproduktion den Preis für den besten deutschsprachigen Dokumentarfilm wert – obwohl kaum deutsch gesprochen wird.

Große Filmerlebnisse. Doch es war ein kleiner, unprämierter Film aus der Provinz, der die Frage nach dem Authentischen am intelligentesten inszenierte. „Peiden“ heißt das halbstündige Stückchen, in dem der Schweizer Regisseur Mattias Caduff seinen Bündner „Bürgerort“ mitsamt allen zwölf Bewohnern porträtiert, ausgenommen nur die Feriengäste, bei denen sich der Filmemacher für diese Missachtung entschuldigt. Eine Auftragsarbeit. Caduff schert sich nicht ums Unverstellte, er liest seinen Text wie einen Schulaufsatz vom Blatt ab, eine durchlaufende Erzählung, die auch die authentischen Stimmen der Dorfbewohner interpretierend überlegt. Echtheit im Kino ist immer gekünstelte Illusion. Warum dann die Kunstanstrengung nicht auch als solche präsentieren? Kein O-Ton, nirgends. Die Wahrheit ist nicht vor Ort, sondern irgendwo dazwischen.

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