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Kultur: Wirksam bis zum Tod

Ian Kershaw fragt, warum die Deutschen das „Dritte Reich“ bis zur letzten Minute verteidigt haben.

Wir kapitulieren nie“ steht auf einer Mauer, vor der Soldaten entlanghasten. Das Foto schmückt den Umschlag des neuen Buches von Ian Kershaw, in dem der britische Historiker der Frage nachgeht, wie das „Dritte Reich“ bis zum allerletzten Ende hat funktionieren können. Wir kapitulieren nie – das war tatsächlich die Haltung von Wehrmacht, Staatsapparat, Bevölkerung und des NS-Apparats sowieso. Anders als in Italien, wo das faschistische Regime sich 1943 seines Diktators entledigte und hurtig die Fronten wechselte, blieb das System in Deutschland bis zum 8. Mai 1945 intakt.

Kershaw, Autor der besten Hitler-Biografie und ein exzellenter Kenner der Geschichte des „Dritten Reichs“, will diese für ihn noch offene Frage nach der Funktionsweise des Reiches in der letzten Kriegsphase 1944/45 klären. Die Darstellung der Machtstrukturen und zumal der Kompetenzrangeleien, die in der Hektik des Krieges immer mehr zunahmen, reicht nicht aus; Kershaw nimmt auch die Mentalitäten in den Blick. Und da sieht er eine Disposition, die dem von ihm in all seinen Arbeiten als zentrales Element der Nazi-Herrschaft herausgearbeiteten Charisma Hitlers entgegenkommt: das Pflichtgefühl, im Militär durch den „Eid auf den Führer“ auf die Spitze getrieben. Dafür bringt er zahlreiche Zeugen bei, nicht zuletzt die Abhörprotokolle, die der Britische Geheimdienst von den Gesprächen kriegsgefangener deutscher Offiziere angefertigt hatte.

Als geradezu katastrophal erweist sich in historischer Perspektive das Scheitern des Attentats vom 20. Juli. Denn danach wurden die Schaltstellen der Wehrmacht gesäubert, äußerten hochrangige Nazis regelrechten Hass auf die Aristokratie, den alten Träger des Offizierskorps. „Eine verhängnisvolle, bleibende Folge des Bombenanschlags“, konstatiert Kershaw, „war die Bereinigung jeglicher Möglichkeit, dass die Streitkräfte in den letzten Monaten des Dritten Reiches zu einem Träger des Regimewandels wurden.“ Zugleich gibt Kershaw, wiederum gestützt auf zeitgenössische Äußerungen, zu bedenken, dass sich bei einem Erfolg des 20. Juli eine neue Dolchstoßlegende hätte bilden können, mit denselben Folgen wie die vom November 1918.

Und das Erlebnis des Jahres 1918 hatte sich unauslöschlich in die Persönlichkeit Hitlers eingeprägt. Immer wieder, das ist hinreichend bekannt, kam der „Führer“ darauf zu sprechen, dass 1918 sich nicht wiederholen dürfe. Die materielle Ausstattung der Bevölkerung, die die einrückenden Alliierten vielerorts völlig perplex machte, war eine Schlussfolgerung, die das Regime daraus zog. Kershaws Erklärung für das bedingungslose Ausharren der Deutschen lautet jedoch anders als die zuletzt durch Götz Aly vertiefte Theorie einer „Konsensdiktatur“. Die Begeisterung für den „Führer“, die seit Stalingrad erkaltet war, flammte mit dem Attentat in der Wolfsschanze nur kurz wieder auf und verflüchtigte sich dann völlig, im umgekehrten Verhältnis zur von Goebbels immer stärker aufgedrehten Propaganda. Der sprichwörtliche Mann auf der Straße hatte unter dem ab Juli ’44 rapide zunehmenden Terror von SS und Polizei gegen die eigene Bevölkerung keine Möglichkeit des Widerstandes mehr.

Doch das Terrorregime, das Kershaw an erschütternden Beispielen schildert, ist für ihn nur ein Aspekt. Wichtiger war, dass der gesamte Herrschaftsapparat von Partei und Staat, dass alle Behörden, Dienststellen und wie auch immer Uniformierten „funktionierten“, ob aus Pflichtgefühl oder Fanatismus. Kershaw konstatiert das Paradox einer „charismatischen Herrschaft ohne Charisma“, für die man sich, wenn denn Kershaw schon auf Kategorien Max Webers zugreift, dessen Begriffe der „Veralltäglichung des Charismas“ und dessen unausweichlicher „Bürokratisierung“ auf ihre Verwendbarkeit geprüft zu sehen wünschte. Denn nicht nur ein Apparat, sondern viele Apparate standen Hitler zu Gebote, der in sich die Funktionen des Staats- und des Parteichefs und des Obersten Kriegsherren vereinigte – und von dem, dies vor allem, alle übrigen Machthaber persönlich abhängig waren. Hitler berief und entließ, belohnte und strafte jeweils den Einzelnen, und niemand konnte sich seiner Gunst gänzlich sicher sein, wie die Absetzungen von Göring und sogar Himmler – in den allerletzten Kriegstagen – zeigen.

Und doch funktionierte das Charisma bisweilen: Als Hitler die Gauleiter am 24. Februar 1945 ein letztes Mal in der Reichskanzlei versammelt hatte, notierte sich einer der zuvor zweifelnden „Goldfasane“ begeistert: „Unsere deprimierte Stimmung verflüchtigt sich. Die Enttäuschung der letzten Stunden ist verflogen. Wir erleben noch einmal den Hitler von ehedem.“

Die Personalisierung der Geschichte, die Kershaw in seiner Fokussierung auf ein „Quadrumvirat“ aus Propagandaminister Goebbels, Himmler, der grauen Partei-Eminenz Martin Bormann sowie Rüstungsminister Albert Speer vornimmt, die allesamt gegen Ende des Krieges immer weitere Befugnisse erhielten, ist vielleicht zu sehr dem erzählenden Duktus des Buches geschuldet. Denn dem zweifellos exzeptionellen Machtwillen dieser vier stand der systemimmanente Kompetenzwirrwarr entgegen, der das NS-Regime von Anfang an kennzeichnet und der eine wesentliche Voraussetzung für Hitlers unumschränkte Macht darstellt.

Auch wurde das Reichsgebiet von Tag zu Tag kleiner, seit die Rote Armee im Spätherbst 1944 in Ostpreußen eingedrungen war – und der Propaganda damit ein schlagendes Instrument lieferte: die Angst vor dem Bolschewismus. Sie mischte sich, wie Kershaw belegt, bei vielen Soldaten mit dem Eingeständnis eigener Schuld während der Besetzung sowjetischer Gebiete. Aber selbst im innersten Kreis der Macht regten sich Zweifel: Ausgerechnet Bormann, rechte Hand Hitlers, äußerte brieflich Anfang Februar 1945, „wie verzweifelt die Lage tatsächlich ist“. Dieser Pessimismus griff unter der Führung um sich, doch die „Paladine“ waren „nicht die Männer, die eine Fronde hätten bilden können“, wie Kershaw urteilt.

„Hitlers Fähigkeit, die Massen zu begeistern, wirkte schon länger nicht mehr“, resümiert Kershaw seine dichte, an Primärquellen wie Soldatentagebüchern ungemein reiche Schilderung: „Gleichwohl blieben Strukturen und Mentalitäten von Hitlers charismatischer Herrschaft bis zu seinem Tod im Bunker wirksam.“ Hitler steht im Zentrum des NS-Regimes, und er allein und bis zum Tag des Selbstmords – das ist die Botschaft dieses Buches, das einmal mehr ein Lehrstück ist über Verführbarkeit, Gehorsam und Verantwortungslosigkeit eines ganzen Volkes.





– Ian Kershaw:

Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011. 704 Seiten, 29,99 Euro.

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