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Heiter am Hanseatenweg. Christa Wolf, mit Ingo Schulze auf dem Podium.

© DAVIDS

Witz und Wehmut: Christa Wolf stellt ihren neuen Roman vor

In der ausverkauften Akademie der Künste stellt Christa Wolf ihr neues Buch vor. Dieses ist eigentlich kein Roman, sondern eine Mischung aus Selbstreflexion, Essay und Reisebericht.

Es ist an diesem Abend mehrmals vom Gewebe, vom Muster die Rede. Ingo Schulze, der in Text und Lesung einführt, versucht, mit dem Begriff des „Lebensmusters“ das Spezifische an „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“, dem neuen Buch von Christa Wolf, zu erfassen. Sie selbst spricht vom Gewebe, aus dem sich für den Vortrag nur schwer ein Faden herauslösen lasse, ohne das Ganze zu zerstören. Ein ungewöhnliches Gewebe stellt freilich die Veranstaltung selbst dar: ein Ineinander aus Milieus und widersprüchlichen Stimmungslagen, ein Nebeneinander von aufgekratzter Gegenwart und lebendiger (oder noch stark wirkender) Vergangenheit.

Christa Wolf präsentiert ihren neuen Roman, an dem sie lange gearbeitet hat und der gar kein Roman, sondern eine Mischung aus Selbstreflexion, Essay und Reisebericht ist. Der in Los Angeles spielt, wo Christa Wolf auf Einladung des Getty Centers 1993 lebte, während in Deutschland ihre kurzzeitige Tätigkeit als IM publik wurde.

Das ist natürlich ein Großereignis. Die Veranstaltung in der Akademie der Künste ist lange ausverkauft. Um dem Andrang gerecht zu werden, hat man die hintere Wand des großen Saals am Hanseatenweg geöffnet und einen kleinen Saal hinzugenommen. Es reicht trotzdem nicht. Eine ehemalige Berliner Kultursenatorin rennt aufgeregt die Reihen ab. Statt des angekündigten Arno Widmann führt Ingo Schulze in den Roman ein. Die Bekanntgabe löst Lachen im Publikum aus, denn Arno Widmann, das wissen offensichtlich viele, hat vor wenigen Tagen eine eher negative Kritik des Buchs veröffentlicht. Die Betriebsaufgeregtheit weicht sympathisch bodenständiger Ruhe, als Christa Wolf – an einem runden Bistrotisch sitzend – schließlich zu sprechen beginnt. „Ach, viele Ostmenschen hier“, sagt sie, als die Beschreibung eines amerikanischen Grenzbeamten am Flughafen, der nach Blick in ihren DDR-Pass nach dem Telefonhörer greift, dann zum zweiten Mal Heiterkeit auslöst.

Christa Wolf liest von ihrer Ankunft in Los Angeles, beschreibt ihre Mitstipendiaten, ihren kalifornischen Alltag im „Anhauch des Südens“. Fließend geht die Beschreibung der amerikanischen Gegenwart und ihrer „schuldlosen“ Bevölkerung in Erinnerungen über: an Treffen mit Lew Kopelew („So einen wird es nicht mehr geben“), an die Demonstration vom 4. November 1989, bei der sie während einer Rede einen Schwächeanfall hatte und in einem gespenstisch leeren Krankenhaus behandelt wurde, das wegen erwarteter Ausschreitungen auf zahlreiche Verletzte vorbereitet war. Einer Sally versucht sie zu erklären, was ein IM ist und dass sie sich an die Gespräche, die sie mit den zwei jungen Männern 1959 geführt hat, kaum erinnern kann.

Obwohl immer wieder Freuds Mantel, sein „overcoat“, thematisiert wird und der Erzählerin eine Analyse angeraten wird, obwohl das Erinnern im Zentrum dieses mäandernden Erzählens steht – die erinnerten Szenen selbst bleiben diffus, als würden sie beim Erinnern zerfallen. Oder liegt der Eindruck des Unkonkreten und Verschleierten an der Melancholie, an der Trauer, die alles einfärbt?

Christa Wolfs Witz ist wieder da, als Ingo Schulze sie nach der Lesung fragt, ob dieses Buch ihr letztes großes sei. „Weil ich bald sterbe oder wie?“

Standing ovations. Danach sitzt sie im Foyer der alten West-Berliner Institution und signiert hunderte Bücher, die in bunte Tüten des Berliner Suhrkamp Verlages gepackt werden, auf denen Werbung für den hippen Edition-Suhrkamp-Laden in Berlin Mitte gemacht wird.

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