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Kultur: Wo das Wissen entspringt

Alles bewegt sich: die Tanz-Forscherin Gabriele Brandstetter zur heutigen Eröffnung des Tanzkongresses in Berlin

Auf Initiative der Bundeskulturstiftung versammelt sich die deutsche Tanzszene ab heute zum viertägigen „Tanzkongress Deutschland“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Vorbild sind die legendären Tanzkongresse Ende der zwanziger Jahre. In den nächsten Tagen debattieren mehr als 100 Experten aus Kunst und Wissenschaft unter anderem über Tanz und Gedächtnis, Arbeitsprozesse und Produktionsstrukturen. Gleichzeitig finden in Berlin zahlreiche Aufführungen statt. Zur Eröffnung tanzen heute um 19 Uhr im Haus der Kulturen der Welt The Forsythe Company und Ballettstar Vladimir Malakhov, für den Sasha Waltz ein Solo kreiert hat.

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Frau Brandstetter, den letzten deutschen Tanzkongress gab es im Jahr 1930. Unter welchen Vorzeichen findet der jetzige Kongress statt?

Der Kongress ist ein Forum der Selbstverständigung, das auch aktuelle politische und bildungspolitische Probleme aufgreift. Der Zeitpunkt ist gut gewählt, um die Aufmerksamkeit auf die vielfältigen Aktivitäten im Feld des Tanzes zu lenken. Vieles ist gerade angelaufen, die Aktion „Tanz in Schulen“ zum Beispiel, der Tanzplan Deutschland der Bundeskulturstiftung oder auch die Initiative, ein hochschulübergreifendes Zentrum für Choreografie in Berlin zu gründen.

Das Motto lautet „Wissen in Bewegung“. Wieso wird der Aspekt des Wissens betont?

Man kann den Titel in zwei Richtungen lesen. Einerseits stellt sich die Frage, welches Wissen liegt in Bewegung oder was wissen wir über tänzerische Bewegung? Unsere Vorstellung von Wissen ist stark auf das Kognitive, Archivarische gerichtet. Wie gehen wir aber damit um, dass in anderen Bereichen der Wissenschaft, in der Hirnforschung oder in der Philosophie, schon lange davon die Rede ist, dass es auch ein intuitives oder sinnliches Wissen gibt? Andererseits soll auch die statische Idee von Wissen hinterfragt werden: Der Tanz kann uns zeigen, was Bewegung ist, nämlich Verwandlung, etwas, was sich in Sprüngen entfaltet.

In keiner anderen Kunstform steht der Körper so sehr im Mittelpunkt. Hat der Tanz andere Körper-Bilder und -Inszenierungen hervorgebracht als die Mode, der Sport oder die Fotografie?

Wir leben in einer sehr körperbewussten Zeit. Wenn man sich den aktuellen Körperkult aber genauer anschaut, stellt man fest, dass der Diskurs entweder therapeutisch ist – Stichwort Fitness, Wellness – oder dass er leistungs- und zielorientiert ist wie im Sport oder bei Schönheitsidealen. Der Tanz erlaubt einen anderen Blick auf diese Leitbilder. Er kann mit ihnen experimentieren und sie auf ihre dunkle Seite hin befragen. Was zum Beispiel haben Körperdisziplinierungen mit Verletzungen und Gewalt zu tun? Tanz erkundet die Grenzen von Körper und Bewegung und lenkt den Blick darauf, dass Choreografie ein Beziehungsgeschehen ist zwischen Tänzern in Raum und Zeit und mit den Zuschauern.

Im Tanz konnte man immer auch die sich verändernden Beziehungen zwischen den Geschlechtern beobachten. Hat er die Gender-Debatte beeinflusst?

Unbedingt. Im Tanz werden immer Körperbilder geprägt – und die sind geschlechtsspezifisch. Die Gender-Bewegung, beginnend in den siebziger Jahren, ist nicht zu denken ohne das Tanztheater von Pina Bausch und vielen anderen, die den körperlichen Konstrukten von Geschlechterdifferenz nachgespürt haben. Auch fragt der Tanz nach unserem Umgang mit Hetero- oder Homosexualität.

Spielt die klassische Spaltung zwischen Ausdruckstanz und Ballett eigentlich immer noch eine Rolle?

Es ist offensichtlich, dass es heute nicht mehr um die Trennung von bestimmten Tanzstilen oder von Bühnen- und Gesellschaftstanz geht. HipHop und zeitgenössischer Tanz zeigen jeder auf seine Weise etwas von unserer Befindlichkeit, auch etwas von aktuellen Problemen wie der Globalisierung. Immer öfter greift der Tanz Themen auf, die politische Fragen betreffen. Choreografen wie Sasha Waltz, William Forsythe und Meg Stuart erkunden Katastrophen-Szenarien mit den medialen Möglichkeiten von Tanz und Theater.

Sie haben die Tanzwissenschaft in Deutschland etabliert. Was sind Ihre Forschungsschwerpunkte?

Ich arbeite in zwei Bereichen. Zum einen baue ich einen Master-Studiengang für Tanzwissenschaft an der FU auf, in Kooperation mit der Berliner Hochschullandschaft und Tanzszene. Als Forscherin arbeite ich interdisziplinär und frage zum Beispiel: Was ist Virtuosität oder Anti-Virtuosität? Oder: Wie kann man Choreografie und die Untersuchungen der Komplexitätsforschung verbinden?

Der Tanz war lange ein Stiefkind der Wissenschaft, er spielte auch nur eine marginale Rolle als Kunstform. Woran liegt das?

Der Tanz stand von der Antike bis zu Hegel in der Hierarchie der Künste immer am Rande. Das hängt zum einen mit der Körperlichkeit des Tanzes zusammen, mit dem platonisch-christlichen Dualismus von Körper und Geist. Der Körper besaß keine Würde als Träger von Wissen. Zum anderen ist die marginale Rolle des Tanzes in seiner Flüchtigkeit begründet. Er hat nicht wie andere Künste Eingang in die Museen und Archive der Kulturgeschichte gefunden.

Es hat immer wieder Emanzipationsbewegungen im Tanz gegeben. Wie emanzipiert sind die Tänzer heute?

Das Selbstverständnis der Choreografen und Tänzer hat sich im Lauf der Jahrzehnte fundamental verändert. Es gibt mittlerweile den Autoren-Tanz, außerdem entstehen heute sehr viele Choreografien in Teamarbeit, so dass man zum Beispiel nicht mehr sagen kann: Das ist ein Stück von Xavier LeRoy. Die Politik des Namens wird vom Markt zwar immer noch gefordert, aber die Tänzer sind eigentlich Co-Autoren. Das führt nicht nur zu neuen, freien Formen, auch der Zuschauer erhält größere Freiheiten.

Künstler und Tanzforscher versuchen, den Tanz theoretisch zu durchdringen. Tut sich da nicht ein Riss zwischen Reflexion und körperlicher Erfahrung auf?

Der Riss verläuft nicht zwischen Körper und Reflexion, der Riss geht vielmehr durch den Körper. Weil wir reflektierende Wesen sind, fühlen wir unseren Körper und bewegen uns, oft auch unbewusst. Gleichzeitig sind wir aber auch die Beobachter dieser Bewegung. Der Tanz macht diese Disposition erfahrbar.

– Das Gespräch führte Sandra Luzina.

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