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Kultur: Wo der Schweizer Berg spricht

Barbara Köhler huldigt dem Walliser Gorwetsch.

Barbara Köhler hat sich den Bewegungen zwischen Zeiten, Orten und Kulturen gewidmet. Dem Wandel der deutschen Gesellschaft spürte sie in ihrem Lyrikdebüt „Deutsches Roulette“ (1991) nach. Homers „Odyssee“ befreite sie im Poem „Niemands Frau“ (2007) aus tradierten Blickwinkeln. In „Neufundland“ (2012) ordnete sie die kleinsten Bedeutungsträger der Sprache sinnerhellend neu. Nun zelebriert die 1959 im sächsischen Burgstädt geborene Autorin entschleunigtes Sehen und Sprechen. Sie entwirft einen Wort-Raum zum Innehalten im Zusammenspiel der Elemente. Indem sie sich dem Berg Gorwetsch im Schweizer Wallis auf immer wieder neuen Wegen nähert, sinnt sie den geheimnisvollen Korrespondenzen von Landschaft und Sprache nach.

Der Titel erinnert an die „36 Ansichten des Berges Fuji“, jene berühmte Serie von Farbholzschnitten des Japaners Hokusai. Holzschnitte stellen die Dinge zumeist vergröbert dar. Köhlers ästhetisches Konzept ist dem entgegengesetzt. Wo Hokusai Tiefe nur ahnen lässt, sucht Barbara Köhler das Wesen der Natur zu ergründen. Wenn sie auf die Felsen und Grate des Berges blickt und in die Täler, dem Fluss Rhone folgt und dem Bach Raspille, überschreitet sie unermüdlich Grenzen: die Baumgrenze, die Schneefallgrenze und die Schattengrenze – und immer wieder Sprachgrenzen zwischen dem Hochdeutschen, dem Walliserdeutsch und dem Französischen.

Köhler erkundet Natur dort, wo sie sich dem menschlichen Zugriff entzieht – wie die Mure, spontan entstehendem Geschiebe aus Wasser, Gestein und Schlamm. Sprachzauberisch schlüpft sie in die Rolle der Naturhistorikerin und Geologin. Als solche reist sie durch Zeiten und Räume voller Abgründe und Magie. Sie erzählt zu Miniaturen verdichtete Sagen und Legenden.

Um das Verborgene und das Geheimnis drehen sich fast alle Neunzeiler dieser vier mal neun Ansichten. Das fantasievolle Spiel balanciert zwischen Naturbildern, Grammatik und Geometrie und regt das Vorstellungsvermögen und den Möglichkeitssinn an. Analog zu crossmedialen Kunstwerken greifen Köhlers Ansichten nahtlos ineinander – eine spannende Mischung aus Sprachrhythmus, sinnlicher Erfahrung und Naturphilosophie. Dorothea von Törne

Barbara Köhler: 36 Ansichten des Berges Gorwetsch. Mit Fotogradien der Autorin. Edition Spycher.

Herausgegeben von Thomas Hettche.

Dörlemann, Zürich 2013. 96 S., 16,90 €.

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