zum Hauptinhalt

Kultur: Wo die Aufklärung angewandt wird Ein Vortrag Lord Dahrendorfs im Berliner Wissenschaftskolleg

Stimmungen gegen den Strich zu bürsten ist das Geheimnis des erfolgreichen Vortrags. Und ein Titel, der irritierend schimmert.

Stimmungen gegen den Strich zu bürsten ist das Geheimnis des erfolgreichen Vortrags. Und ein Titel, der irritierend schimmert. „Der Westen und Europa“ hatte Lord Ralf Dahrendorf bei seinem Auftritt am Montagabend im Wissenschaftskolleg als Thema gewählt und damit die Frage herausgefordert, ob denn der Westen etwas sei, das ausserhalb, oberhalb, jenseits von Europas zu denken ist? In der Möglichkeit, sie zu stellen, sieht Dahrendorf die Konsequenz der Wende von 1989. Seither passten die Institutionen, in denen Nachkriegseuropa Gestalt gewonnen hat – Montanunion, Nato, EU, bis hin zum Binnenmarkt –, nicht mehr unverkantet zueinander. Seither gehe es um eine Definition Europas in einem offenen, vom Ost-West-Gegensatz befreiten historisch-politischen Feld.

Das war der akademische Umweg – von Dahrendorf locker hingeworfen – zur Reizfigur der aktuellen Kontroverse: Europa als Gegengewicht zu Amerika? Da wurde der Lord mit Zweit-Wohnsitz im Schwarzwald, der im Oberhaus Toni Blair den Rücken gestärkt hat, unerwartet prinzipiell. Ein solches Europa erscheint ihm völlig verfehlt. Dahrendorf sieht Europa nicht nur meilenweit davon entfernt, sich zu einer solchen Rolle aufraffen zu können. Seitdem Deutschland auch dann nach Westen blickt, wenn es nach Osten sieht, befürchtet er davon eine Teilung des Kontinents – wie sie im „Brief der Acht“ im Vorfeld des Irak-Kriegs aufschien. In die Lage gebracht, sich zwischen Amerika und Europa zu entscheiden, neigt Dahredorf Amerika zu – der „angewandten Aufklärung“, seinem alten Leitbegriff.

Aber was ist der Westen, an dem Dahrendorf misst? Vielleicht brachte er die Sache aus den Gefilden der metaphorischen Geografie auf einen verlässlicheren Boden, als er dafür – mit Garton Ash – den Begriff „liberale Ordnung“ verwendete. Aufklärung und Rechtsstaat, „rule of law“, als Bürgen fürPolitik und Gesellschaft: Dahrendorf sieht sie in einem Europa nicht gesichert, das sich gegen Amerika stark macht, aber gefährdet auch in Amerika – der rechtsfreie Raum von Guantanamo ist ihm das provozierende Exempel für die Allianz von konservativem und nationalistischen Fundamentalismus. Doch angesichts der islamischen Fundamentalismen schliesst er Interventionen nicht aus: ein Völkerrecht, das nur als Staatenrecht funktioniere, könne nicht das „letzte Wort“ sein.

Und wo finden Dahrendorfs Argumentationslinien die Denk-Muster, an denen sie halt finden? Einerseits glaubt er an Amerikas Fähigkeit, seine Irrwege zu korrigieren – „das tiefe Amerika, Tocquevilles Amerika lebt“. Andererseits, siehe da, findet er eine Perspektive für Europa: die Erprobung einer Art von „kategorischem Imperativ“der internationalen Ordnung, den Vorgriff auf eine Weltbürgergesellschaft. Der Skeptiker, auf den Dahrendorf abonniert ist, verwandelte sich an diesem Abend in den liberalen Visionär. Allerding streng kantianisch: notwendig sind Schritte in die richtige Richtung, Schritte, die nichts verbauen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false