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Kultur: Wo die Sonne Homers allen leuchtet

Drückt man an der Musikbox im ersten Stock der Genossenschaftskneipe "Kreuz" in Solothurn zu vorgerückter Stunde die Taste für "Paint it black", so hat man einen anderen Song der Rolling Stones, "As tears go by", automatisch mitgewählt.Für einen Franken gibt es sieben Titel zu hören, und in der Koppelung von Pessimismus und Tröstung liegt ein Solothurner Geheimnis.

Drückt man an der Musikbox im ersten Stock der Genossenschaftskneipe "Kreuz" in Solothurn zu vorgerückter Stunde die Taste für "Paint it black", so hat man einen anderen Song der Rolling Stones, "As tears go by", automatisch mitgewählt.Für einen Franken gibt es sieben Titel zu hören, und in der Koppelung von Pessimismus und Tröstung liegt ein Solothurner Geheimnis.Mag eine einzelne Lesung schlecht geraten, die Sonne Homers leuchtet hier allen: Groß- und Nachwuchsschriftstellern, Vertretern aller vier Schweizer Landessprachen, Selbstdarstellern und Schaulustigen.Sie pendeln zwischen dem sogenannten Landhaus, dem Veranstaltungsort, und dem vis-à-vis gelegenen "Kreuz", wenn sie sich nicht von der Sonne, dem Walliser Wein und den wechselnden Gesellschaften an den Holztischen zum Verweilen auf der Straße verführen lassen.Dort sitzt dann vielleicht Peter Bichsel.Oder ein Frankfurter Verleger, seit Stunden einer neuentdeckten Autorin, einer Landestochter, harrend, unweit des Kochs, der bedrohlich laut und mit Nachdruck Lob für seine vegetarischen Gerichte einfordert.

Das literarische Familientreffen an den Tagen nach Auffahrt, wie Himmelfahrt in der Schweiz heißt, ist in sein zwanzigstes Jahr gekommen.Anders als den Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb würde man nicht aufhören, die Solothurner Literaturtage jung zu nennen, käme man gar nicht auf die Idee, nach Reformen zu begehren - diese Veranstaltung ist zu edel, zu gediegen auch für Erregungen über Formalien.Hier muß das Publikum nicht durch Wettlesen, telegene Scharmützel, Preisvergaben angelockt werden.Effekte stören eher.Daran ändert in diesem Jahr auch Helvetiens Gastauftritt bei der Frankfurter Buchmesse im Oktober nichts, anläßlich dessen mehr als dreißig Neuerscheinungen aus der Schweiz angekündigt sind.

Fünf Autoren lasen aus noch unveröffentlichten Werken: Gabriele Alioth, Friederike Kretzen, Erica Pedretti, der in Paris lebende Altmeister Paul Nizon sowie Christoph Geiser mit einem Auszug aus seiner Kerkerphantasmagorie "Die Baumeister": ein Text aus dem Verlies der Qualen und der Lüste.Er verweigert sich der Nacherzählung, bricht in die Musik auf: "Wer möchte die Welt, diesen Klangraum, nüchtern verlassen?" Geisers homoerotisch instrumentalisierte sprachliche Radikalität hat in ihrer Zuspitzung von Werk zu Werk etwas Verläßliches."Die Baumeister" dürfte eines der interessantesten Herbstbücher aus der Schweiz werden, zumal Peter Webers Nachfolgeroman zum furiosen "Wettermacher" von 1993 noch auf sich warten läßt.

Seit Mai 1979 kommt die potentielle Leserschaft in den Kanton Solothurn zum "Forum für aktuelles Literaturschaffen in der Schweiz" und hört zu - alljährlich 25 Autorinnen und Autoren, an die 400 sind es mittlerweile, davon 266 aus der deutschsprachigen Schweiz.Die Gründungsmitglieder Rolf Niederhauser und Otto F.Walter wollten 1979 vor allem "Distanzen, Befremden, Stummheit gegenüber dem Literaturbetrieb abbauen".Die französisch- und die italienischsprachige sowie die rätoromanische Literatur genießen laut Statut Gastrecht.Ein Austausch zwischen den Sprachgruppen findet allerdings kaum statt, zu unterschiedlich sind die Rezeptionsgewohnheiten von Literatur.Die Dichterlesung scheint doch eine sehr alemannisch-teutonische Angelegenheit.Einem Mundartpoeten wie Fernando Grignola aus Lugano hätte man jedenfalls mehr Publikum gewünscht.Seine schlichten und erdenschweren Gedichte handeln von der nach wie vor problematischen Situation der italienischen Gastarbeiter, vom Eigenleben der vielen Koffer und vom Grün des mitgebrachten Olivenöls.

Zwanzig Jahre Solothurn: Anlaß für eine Rauminstallation in Kopfhöhe aufgehängter Bücher von Jean-Benôit Lévy, "La poésie des mots" genannt, und für Grußbotschaften aller Art und Bedeutungsschwere: "Literatur macht stark, Literatur macht schwach, Solothurn ist schön" (Kurt Marti).Das Perpetuum mobile der hängenden Bücher geriet während der Reden von Geschäftsleiterin Vrony Jaeggi und von Bernard Cathomas, dem Direktor der fördernden Stiftung Pro Helvetia, bedenklich ins Rauschen - sei es vom Wind, sei es vom wehenden Geist.Eine Besonderheit stellt die basisdemokratische Besetzung der Programmkommission dar: Alle zwei Jahre wird komplett rotiert.Nur so könne der Charakter der Veranstaltung garantiert werden, meinte der scheidende Kommissionsleiter Reto Sorg: "Dynamisch, kontrovers, provokativ".Für Dynamik, wenn nicht gar Kontroversen hatte im vergangenen Jahr das Motto "Erinnerungsräume" vor dem Hintergrund der virulenten Nazigold-Debatte gesorgt.Eine "Erinnerungssuite" im vornehmen Hotel Krone, die der Basler Editor Urs Engeler eingerichtet hatte, bildete das poetische Herz der Literaturtage.

Dieses Jahr war der geheime Flucht- und Ruhepunkt die Ausstellung im Besenval-Palais zum siebzigsten Geburtstag des Verlegers, Schriftstellers ("Der Stumme", "Zeit des Fasans") und Solothurn-Initiators Otto F.Walter.Er pflegte, zunächst im familieneigenen katholischen Walter-Verlag in Olten, später als Programmleiter bei Luchterhand, das Werk von mehr als 170 Autoren.Er entdeckte unter anderen Peter Bichsel und Alfred Andersch, begründete die heute legendären "Walter-Drucke" sowie die "Sammlung Luchterhand" und holte die literarische Moderne in die Schweiz.In der Ausstellung sind die Bücher, die der 1994 gestorbene Otto F.Walter ermöglichte, zu einem imponierenden "Walter-Turm" gestapelt.

Das Solothurner Literaturpanorama ist breit und wohlwollend.Publikumslieblinge haben hier ihren Platz, etwa der Traditionalist Franz Hohler mit einer Almsaga, oder der junge Lukas Stuber mit einem kleinen Roman voller Harmlosigkeiten.Vom wehrhaften St.Ursus, der die Stadt beschirmt, war es dann nicht mehr weit zum berndeutschen - und daher auch für andere Schweizer nicht unbedingt leicht verständlichen - Theaterstück "Ursle".Sein Autor Guy Krneta trug es mitreißend komisch vor: "Was machsch, Ursle? Nüt." Platz war auch für Stargast Günter Grass, dessen Auftritt einen Auflauf fast wie in Ascot provozierte.Grass - er war ausdrücklich "nur" als Lyriker gekommen, nicht als Praeceptor Germaniae - zeigte im Kunstmuseum die Aquarelle zu seinem jüngsten interdisziplinären Werk "Fundsachen für Nichtleser".Sichtlich genoß er die langentbehrte, nicht nach Ost und West geteilte Sympathie, die ihm bei der Abschlußlesung entgegenbrandete.

Das diesjährige Veranstaltungsmotto lautete weitschweifig "Vom Wandern und Wohnen.Vom Schreiben zwischen Sprachen, Ländern und Kulturen - vom Schreiben auf der Suche nach dem eigenen Ort".Genuin verkörpert wurde die künstlerisch produktive Ortlosigkeit eigentlich nur von dem Lyriker und Essayisten Michael Hamburger.1924 als Sohn eines Berliner Kinderarztes geboren, emigrierte er 1933 mit seiner Familie nach England.Allein in seinen Träumen, sagte der Hölderlin- und Celan-Übersetzer, sei die Fremdheit durchgebrochen."Ganz und gar nur im späten Halblicht enterbt uns das Land", heißt es in seinem Gedicht "Fortgezogen", das Erich Fried ins Deutsche übertrug.Hamburgers Lesung strahlte stille Größe aus, die Aura eines wirklichen Dichters wurde spürbar.

Unfreiwillige Komik und Pathos prägten dagegen eine von Ilma Rakusa moderierte Podiumsdiskussion zwischen Herta Müller, Emine Sevgi Özdamar und dem Bosnier Dzevad Karahasan.Während Özdamars "Mutterzunge" zum Teil locker, zum Teil gewollt drollig für Amüsement sorgte, verbreitete die unlängst opulent preisgekrönte Banater Schwäbin Herta Müller anti-polizeistaatliche Albernheiten: "Trau nicht dem Blaulicht / Tatü, tata, schon bist du nicht mehr da", reimte sie.Wandern, wohnen, genießen: Die Solothurner "Fäscht"-Stimmung überdauert alles.

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