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Kultur: Wo Marx noch Recht hat

Er arbeite, erklärt ein alter Freund, jetzt gar nicht mehr. Dabei senkt er die Stimme und strahlt verschmitzt: "Nichts mehr muss ich selber tun!

Von Caroline Fetscher

Er arbeite, erklärt ein alter Freund, jetzt gar nicht mehr. Dabei senkt er die Stimme und strahlt verschmitzt: "Nichts mehr muss ich selber tun!" Seit zwei Jahren ist er Chef einer großen Firma im Süden Europas, mit mehr als 4000 Mitarbeitern. Das also ist das Geheimnis des modernen Chefseins - eines, das kein Chef je verrät. Wir ahnten es. Selbstverständlich hat der Chef einen Vierzehnstundentag, doch die meiste Zeit verbringt er mit Zeitunglesen, Lunch mit Geschäftsfreunden, Dinner auf Spesen, Dokumente abzeichnen, Visionen entwickeln, Vorträge halten, die andere verfasst haben. Überblick und Repräsentation: Von der Alltagsarbeit ist der Chef suspendiert.

Die Soziologen sagen, dass auf diese Weise ein Großteil der gesamten Firma "Moderne Gesellschaft" funktioniert. Vom Verschwinden der Arbeit ist die Rede und von der Freizeitgesellschaft, seit in den Industrienationen die Zahl der Menschen im so genannten Dienstleistungssektor höher ist als die der Arbeiter. Die Sozialstaaten haben die schwere, körperliche, also die klassische Arbeit sukzessive abgeschafft. Bürojobs und 35-Stundenwoche, Computer, Kopierer, Mikrowellen, Autos und Unterhaltungsindustrie haben die Welt der Zechen und Fließbänder nahezu verdrängt.

Mehrwert & Marx

Alles ist Dienstleistung, sogar die Gewerkschaften und die Bundeswehr, die im Ausland Sozialarbeit verrichtet. Zudem ist jeder ein bisschen sein eigener Unternehmer, vermarktet sich, wirbt für sich als sein eigenes Produkt - mit entsprechendem Risiko. Risikogesellschaft wird das genannt. Dabei geht es in der Arbeit inzwischen weniger um die Sicherung der Subsistenz, als um das Dazugehören. Arbeit haben oder nicht, das entscheidet über gesellschaftliche Inklusion oder Exklusion. Klassische Arbeit - als Bäcker, Bauer, Industriearbeiter - existiert höchstens noch in einer gezähmten, gewerkschaftlich geregelten Form.

Lohnarbeit ist vermietete Lebenszeit. Für Besitzer der Produktionsmittel kann der Arbeitstag, erklärte Marx im "Kapital", nicht lang genug sein. "Das Kapital ist verstorbne Arbeit, die sich nur vampyrmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit, und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt." Lohnarbeit und Kapital stehen einander gegenüber und bedingen einander. Von den sozialen, kommunikativen Werten der Arbeit war damals noch keine Rede, das Hauptaugenmerk galt der Ausbeutung.

Wer dem Arbeitenden soviel gibt, wie dieser an Wert schafft, verzichtet auf Profit - erst durch den Mehrwert entsteht die Gewinnspanne. So soll der Arbeitstag am besten 20 Stunden haben, der Arbeitende ungeachtet von Alter und Geschlecht tätig sein. Der Londoner "Daily Telegraph" zitierte 1860 den Magistrat der Stadt Nottingham: "Um zwei, drei, vier des Morgens werden Kinder von neun bis zehn Jahren ihren schmutzigen Betten entrissen und gezwungen, für die nackte Subsistenz bis zehn, elf, zwölf Uhr nachts zu arbeiten, während ihre Glieder wegschwinden, ihre Gestalt zusammenschrumpft ..." In der Textilindustrie und an den Hochöfen, in Zündholzfabriken, Schmieden, Walzwerken - überall herrschten Zustände, die Aufstände provozieren mussten bei "den Händen", "the hands", wie die Arbeitnehmer hießen. Jede Einschränkung des Arbeitstages musste erstritten werden.

In New York gab unter anderem eine Katastrophe den Ausschlag. Knapp fünfzig Jahre nach den Marxschen Schilderungen aus den Manufakturen Großbritanniens, am 25. März 1911, brannte die Textilfabrik Triangle Waist Company am Washington Square. In dem Hochhaus waren fast nur Frauen und Mädchen beschäftigt. Sechs Tage die Woche saßen sie elf Stunden an Nähmaschinen. Sprechen, Summen, Singen waren untersagt, der Gang zur Toilette nur in den kurzen Pausen gestattet. Die Frauen waren während der Arbeitszeit eingesperrt. Als der Bau Feuer fing und die Stoffballen in Flammen aufgingen, wurde die Fabrik zur Falle. Dutzende der jungen Frauen stürzten sich aus den Fenstern der siebten, achten Etage in den Tod. Der Schock war so groß, dass "an diesem Tag die neue Sozialgesetzgebung entstand" - wie in den 40er Jahren Amerikas erstes weibliches Kabinettsmitglied, die Arbeitsministerin Francis Perkins, erklärte.

Sixpack & Seifenoper

Im Westen - eigentlich: Norden des Globus - sind die Szenarien solcher Streiks und Katastrophen Vergangenheit. Katastrophen in der Welt der Wirtschaft spiegeln vielmehr den virtueller werdenden Charakter der Beziehung zwischen Arbeit, Kapital und sozialem Geflecht. Codiert als elektronische Signale schießen an Terminbörsen in London oder Chicago Geldströme in kaum vorstellbarer Größenordnung hin und her. Die Gesetze des Kapitals scheinen undurchschaubar: Wer seinen Job verliert, fühlt sich als "erfolgloser Unternehmer seiner selbst". Heutige Arbeitslose gehen nicht auf die Straße, sondern lenken sich mit Sixpack und Soapopera ab.

Verschwunden ist der klassische Kontext von Lohnarbeit und Kapital gleichwohl nicht. Er konzentriert sich auf der Südhalbkugel des Globus. Daran erinnert zum Beispiel das Logo der Textilmarke "Fruit of the Loom" - "Frucht des Webstuhls" steht auf den T-Shirts. Nur finden sich die Webstühle nicht mehr in Manchester, sondern in Pakistan oder Malaysia. Die Arbeit, erklärt Slavoj Zizek, hat sich auf die Weltsüdseite verlagert, die Rede von ihrem "Verschwinden" ist illusorisch. Jeder weiß das, aber westliche Gesellschaften, denen die sozial intelligente Verteilung der Arbeit noch nicht gelingt, haben es mit dem Phänomen des Verschwindens an zwei Fronten zu tun. An der illusionären Front mit der Nichtsichtbarkeit der Arbeit im Süden, an der realen mit dem Phänomen der Arbeitslosigkeit im Norden. "Das Kapital" von einst wird indes konkret und physisch weitergeschrieben - in den Kolonien der Konzerne wie etwa den Sweatshops von Nike und Adidas. Wer an der Kreissäge in Gabun die Hand verliert, steht meist ohne Versicherung da. Und wer vom Billiglohn beim Baumwollpflücken lebt, ist gar nicht so weit von Manchester 1860 entfernt.

Dienstleistung und Manufaktur - beide Sphären und Märkte in Nord und Süd weisen Inseln der jeweils anderen auf, man denke an die Verelendung in den Suburbs von Glasgow oder den Wohlstand der Neureichen von Kuala Lumpur. Das Netzwerk des internationalen Arbeits- und Geldmarktes nennen wir Globalisierung. Wie kann dabei eine Solidarität entstehen, die Arbeitende zum "kollektiven Subjekt der Geschichte" werden ließe? In Indien sind Tausende in Call-Centers für schottische Versicherungen beschäftigt, in Brasilien fertigen Facharbeiter Volkswagen für Wolfsburg: Diese Belegschaften könnten kaum gemeinsam auf die Straße gehen.

Wenn die heutigen Drittewelt-Kämpfer auf Gipfeltreffen gegen die Globalisierung antreten, nutzen sie die Freizeit ihrer Nord-Gesellschaften, um daran zu erinnern, dass wir hier "The Fruit of the Loom" ernten, in der Chefetage des Globus, im vorbildhaften, privilegierten, demokratischen Raum der sozialen Rechtsstaaten. Erstaunlich ist dabei, dass sich die Email-und Handy-Aktivisten für die Umverteilung der Arbeit in den Nordgesellschaften bisher kaum interessieren. Arbeitslosigkeit im Norden scheint glanzlos, ungeeignet für den Protest. Allerdings kann die große globale Solidarität, die sich die antiglobale Bewegung wünscht, erst einsetzen, wenn die Arbeit im Norden sozial klüger verteilt wird und das Ausbalancieren der Arbeitsmärkte durch Migration nicht als Bedrohung wahrgenommen wird, sondern als Chance.

Solange die Seattle-Kämpfer dabei so wenig Beweglichkeit zeigen wie die Eliten in Gewerkschaften und Politik, bleibt ihr Protest lästig, aber ungefährlich. Gerade die Antiglobalisierer verkennen das Potential der sozialen Globalisierung. Sie sollten nicht nur gegen Devisenspekulanten, sondern auch für etwas demonstrieren: für Reformen der Uno und der Weltbank, für transnationale Gewerkschaften - und für die intelligente Umverteilung der hiesigen Arbeit.

Warum etwa ist es in Deutschland, dem größten Arbeitsmarkt Zentraleuropas, nicht möglich, wenigstens von den ideenreichen niederländischen Modellen der Umverteilung der Arbeit zu lernen? Hollands Arbeitslosenquote liegt konstant bei 1,8 Prozent, und die meisten der Gezählten sind Kurzzeitarbeitslose. Bei den dortigen Konzepten von Teilzeit und Jobsharing oder dem Arbeitskräfte-Verleih einer Reederei an eine andere, je nach Auftragslage, ist soziale Fantasie am Werk sowie der politische Wille zur Inklusion möglichst vieler. Resteuropa sollte das - Fruit of the Zoom - genau in den Blick nehmen.

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