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Wolf Lepenies: Der Übersetzer der Welt

Der Soziologe Wolf Lepenies hat in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. Die Laudatio von Andrei Plesu im Wortlaut.

In den Ländern Mittel- und Osteuropas hat das Wort "Frieden" eine andere Biographie und folglich auch eine andere Bedeutung als in Westeuropa. Als man bei uns vor 1989 von dem "Kampf für Frieden" sprach, wusste jedermann, dass es eigentlich um den Kampf gegen Imperialismus und Kapitalismus, gegen den gemeinsamen Markt und den nordatlantischen Pakt ging. Im Syntagma "Kampf für Frieden" fiel die Betonung auf das Wort "Kampf". Mit anderen Worten - der Kampf für Frieden war eine Spezies des Krieges, und es wurde oft im Scherz gesagt, wir würden für den Frieden bis zum letzten Mann kämpfen. Tatsache ist, Frieden und Krieg können nur im engen Miteinander existieren. Der Krieg ist zwangsläufig das obsessive Thema jener, die nach Frieden streben, so wie ein stabiler und vertretbarer Frieden das Ziel jedes Kriegers darstellt.

Bei diesem Stand der Dinge fragte ich mich natürlich sofort, als ich hörte, dass Wolf Lepenies mit dem bedeutenden Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt werden soll, über den Frieden welches Krieges denn die Rede sei. Wolf ist sicherlich viel zu gelehrt und weise, als dass er die Tugenden des Krieges pflegen würde. Andererseits aber erlauben ihm sein Temperament, sein Initiativgeist, seine Interessen und seine Anteilnahme am unmittelbaren Drama der Welt nicht, die leicht verweichlichte Haltung und Gestik eines durchschnittlichen Pazifisten einzunehmen. Wolf ist ein Kämpfer. In seinen Büchern kann man ihn nicht ganz wieder finden. Man muss ihn in Aktion sehen, angetrieben vom Furor der Tat, von der strategischen Inventivität, von der Freude des Gründers. Der heutige Preisträger für Frieden ist ein Frontmensch.

Als solchen habe ich ihn kennen gelernt. Als eine strukturierende Energie, als einen Exponenten der Aktion. Für Wolf Lepenies ist die Kontemplation ein Präludium und eine Quelle für seinen Unternehmungsgeist. Selbst seine Bücher sind Bemühungen zur Lösung von antagonistischen Spannungen und von scheinbar unlösbaren Konfrontationen. "Über den Krieg der Wissenschaften und der Literatur" - lautete der Titel eines Vortrags von 1985, als Echo eines Essays mit dem gleichen Titel von Louis Vicomte de Bonald. In diesem Krieg hat die Soziologie, laut Wolf Lepenies, die Aufgabe - als "eine dritte Kultur", als ausgleichende Synthese zwischen den Gegensätzen - produktiv und friedensstiftend - zu vermitteln.

Wolf Lepenies stellt dem Krieg nicht den einfachen und makellosen Frieden gegenüber, sondern Kommunikation und Erkenntnis. Seine Wirksamkeit ist nicht so sehr die Folge eines idealisierenden Engagements zugunsten einer "Feuerpause" - sie ergibt sich aus seiner technischen Kompetenz betreffend den Mechanismus des Krieges und die Motivationen der kriegsführenden Parteien. Den Frieden, den Lepenies möglich macht, ist nicht der Frieden eines engelhaften Redners, sondern der Frieden eines gut informierten und pragmatischen Experten.

In der Bibliothèque Nationale in Paris blieb in einem umfassenderen Codex eine Handschrift erhalten mit dem Titel: Tractatus de re militari et machinis bellicis. Man geht davon aus, dass der Autor, Paulus Sanctinus Ducensis (wahrscheinlich ein Italiener aus Duccio mit dem bürgerlichen Namen Paolo Santino) das Traktat Anfang des 15. Jahrhunderts für die Heeresführer jener Zeit schrieb. In den ersten Absätzen des Textes finden wir eine Art ideales Portrait des militärischen Befehlshabers: dux bactaliarum. Einige seiner Eigenschaften wären: "von Natur aus weise, voraussehend, stark, kühn (...), loyal, an Kriege gewohnt (...)". Keine einzige dieser Eigenschaften fehlt Wolf Lepenies, und so wird er zum ersten dux bactaliarum, der einen Friedenspreis erhält.

Lucian Blaga, ein rumänischer Philosoph aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, hat einmal eine Theorie der "Quer-Berufungen" angerissen. Die großen Erfolge des Geistes, sagte Blaga, gehören Individuen, die sich auf dem Territorium einer bestimmten Berufung mit den Mitteln einer anderen ausdrücken. Platon zum Beispiel ist ein Bildhauer, der in die Philosophie, und Bach ein Architekt, der in die Musik abweicht. Da haben wir einen noch unerforschten Aspekt der Interdisziplinarität. Man könnte hiermit sagen, dass Wolf Lepenies ein bedeutender Friedensstifter ist, gerade weil er über die Fertigkeiten eines scharfsinnigen Kämpfers, eines dux bactaliarum verfügt.

Ihnen mag es seltsam erscheinen, dass die internationalen Stiftungen von Wolf Lepenies, vor allem jene im Osten, aus meiner Sicht gewisse militärische Fertigkeiten vorausgesetzt haben. Lassen Sie mich das erklären: "Der Kampf für Frieden", den die Länder des sozialistischen Lagers priesen, war, wie ich bereits erwähnte, die propagandistische Verpackung eines ideologischen Konflikts. Unter dem demagogischen Deckmantel einer pazifistischen Rhetorik rechneten die kommunistischen Führer mit dem "Feind" ab. Die osteuropäischen Völker aber wussten nur allzu gut Bescheid über den eigentlichen Stand der Dinge. Wir alle blickten mit Sympathie in Richtung Westen, wie zu einem rettenden Ufer der Normalität, des freien Lebens und des Wohlstands. Seinerseits betrachtete uns der Westen mit aufrichtiger Anteilnahme und er war bemüht, uns zu helfen - soweit diplomatische Zwänge und konjunkturell bedingte Strategien ihm dies erlaubten.

"Der kalte Krieg" war eine Realität auf der Ebene der Staatskanzleien, der Führungs-Eliten, der großen System-Auseinandersetzungen. Der Mensch auf der Straße, die Völker selber empfanden sich nicht im Konfliktzustand. Im Gegenteil. Jenseits aller willkürlichen Grenzen, die der "Eiserne Vorhang" erzwang, vereinte uns eine warmherzige Solidarität. Nach 1989 jedoch geschah etwas völlig Ungewöhnliches und Unerwartetes. Der kalte Krieg war vorbei, und mit seinem Ende begann auch die untergründliche Solidarität zwischen Ost und West sowie zwischen den ehemaligen sozialistischen Ländern zu bröckeln. Der Westen wurde zum strengen Prüfer, zu einem mehr oder minder unerreichbaren "Standard", während der Osten sich als launischer und eigensinniger Schüler voller Ressentiments erwies. Und was die ehemaligen kommunistischen Länder betrifft, die fast fünf Jahrzehnte lang durch ein gemeinsames Schicksal verbunden waren, so starteten sie einen verbissenen Wettkampf, wer denn von ihnen als erstes in die "große europäische Familie" aufgenommen wird.

Um zusammenzufassen: Vor 1989 sprachen wir über "Krieg", lebten aber in einer Konstellation der brüderlichen Verbundenheit, während wir nach 1989 zwar über "unser gemeinsames Haus" sprechen, aber unter der Spannung eines beschwerlichen Hürdenlaufs und ärgerlicher Diskriminierungen leben. Wie Ihnen nur allzu wohl bekannt ist, waren die Beziehungen zwischen den Deutschen im Osten und jenen im Westen vor der Wiedervereinigung freundlicher als danach. Damit will ich keineswegs behaupten, dass es früher besser war. Denn die stillschweigende Sympathie zwischen Ost und West war uns keine allzu große Hilfe für ein dezentes Überleben, während die jetzigen Konfrontationen uns stimulieren, herausfordern und wieder Leben einhauchen. Ich stelle nur fest, dass die europäische Integration - ob wir es wollen oder nicht - eine agonale Komponente, eine gewisse Turnier-Mentalität hat. Und dass ihre Vollbringer zwangsläufig strategische Talente, eiserne Entschlusskraft und einen hartnäckigen Kampfgeist haben müssen. Ich würde sogar weiter gehen und behaupten, dass der europäische Integrationsprozess eine "pazifistische", administrative und konstruktive Version des "kalten Krieges" ist, der damit eine höhere, edlere, Ebene erreicht hat. Und dass nur derjenige sich angemessen in der Dynamik dieses Prozesses verhalten kann, der ein subtiles Verständnis für die Mentalitäts-Konflikte, für die schwer vereinbaren Unterschiede und für die Front-Situationen aufbringt.

Wolf Lepenies ist perfekt ausgerüstet für diese Rolle. Nur sehr wenige unter den abendländischen Forschern haben solch ein exaktes und nuanciertes Verständnis des Ostens wie er. Er versteht prompt die lokalen Umstände, findet den richtigen Ton der Intervention und agiert blitzartig. Ich habe mich schon immer gefragt, wie solch ein hochgeistiger Mensch derart effizient sein kann? Wie es denn möglich sei, dass jemand, dessen Projekte manchmal an die Grenze des Unmöglichen reichen, schließlich die Mittel für ihre Verwirklichung findet. Wenn wir uns einen pragmatischen Don Quijote vorstellen könnten, so hätten wir das Portrait von Wolf Lepenies vor Augen. Und mir war es immer eine Ehre, dann und wann an seiner Seite in Rumänien die Rolle eines vermittelnden Sancho Panza einzunehmen.

Ist die europäische Integration eine Art freundschaftlicher, choreografischer Krieg zwischen Ost und West, so ist der Prozess, der innerhalb der ehemaligen kommunistischen Länder für die Wiedereinsetzung von Demokratie und Marktwirtschaft stattfindet, ein unendlich härterer und schwerer zu verwaltender Krieg. Wir kämpfen gegen unsere eigene Vergangenheit und gegen die Überlebenden der alten Strukturen, gegen unsere fehlende Erfahrung und gegen unseren historischen Ballast, wir kämpfen mit uns selber. In diesem Kontext lebensfähige Institutionen einzurichten, zum Beispiel Institute für Fortgeschrittene Studien zu gründen, so wie dies in Budapest, in Bukarest und jüngst in Sofia geschehen ist - das stellt eine enorme taktische und strategische Leistung dar, bei der Ingeniosität und Geduld aufs Äußerste gefordert waren. Alles was normalerweise selbstverständlich ist - von den groß angelegten Prozeduren bis hin zu den unbedeutendsten Details - wird bei uns im Schützengraben mit aufgestecktem Bajonett im Sturmangriff erkämpft. Immer wird jemand benötigt, der von diesen "lokalen Eigenarten" nicht entmutigt wird, jemand, der sie in europäische Termini übersetzt und gleichzeitig die europäischen Termini in den lokalen Dialekt überträgt.

1993 hielt Wolf Lepenies anlässlich der Jahresversammlung des Landeskuratoriums Baden-Württemberg des Stifterverbandes einen Vortrag mit dem Titel: "Die Übersetzbarkeit der Kulturen - Ein europäisches Problem, eine Chance für Europa". Kein Krieg kann ohne Boten und Dolmetscher stattfinden. Wolf hat nach 1989 beide Ämter übernommen. In Erinnerung an die Forschungsarbeit über Engel, die ich im Wissenschaftskolleg zu Berlin als Gast von Wolf unternommen habe, kann ich nicht umhin zu bemerken, dass selbst die Engel - Boten und Dolmetscher zugleich - eine militärische Dimension haben, sofern sie häufig als "himmlische Heerscharen" und als "Heerscharen Gottes" bezeichnet werden. Gemeinsamer Nenner dieser Militär-Engel ohne jede Spur von Engelhaftigkeit und Wolf ist die Berufung für die Vermittlung und für die Arbeit zwischen den Fronten des wachsamen und umsichtigen "Interpreten".

Welches ist letztendlich der Krieg von Wolf Lepenies? Oder aber - so wie wir uns anfangs fragten - der Frieden welches Krieges ist sein Frieden, der Frieden, den er sucht? Bedenken wir die Nachdrücklichkeit, mit der er die Idee eines Studienkreises über Modernität und Islam gefördert hat, und betrachten wir die heutige Situation in Nahost, so stellen wir fest, dass der von Wolf angestrebte Frieden jener ist, der die Oppositionen durch Komplementarität ersetzt. Der Frieden, der in der Diversität der Welt ein Argument ihres Reichtums und nicht der Entzweiung sieht. Der wahre Frieden wird dann erzielt, wenn die Differenzen der Versöhnung zustimmen und dabei die ganze Herrlichkeit und Pracht ihrer Unterschiedlichkeit beibehalten. Nicht eine Sprache für alle, sondern ein weltweites Bemühen um die Übersetzbarkeit einer jeden Sprache in alle anderen Sprachen. Nicht der trübe Dynamismus zentrifugaler Interessen, sondern die statische, ausstrahlende Konvergenz einer gemeinsamen Reflexion und eines gemeinsamen guten Willens: pax hominibus bonae voluntatis. Das ist der "große Frieden", über den sowohl die Evangelien, die islamischen Texte und jene des Judaismus sprechen. "Al-Sakina" nennen ihn die Moslems. "Shekinah" nennen ihn die Juden angesichts der "göttlichen Präsenz", die ihn möglich macht. Indem sie solche Symmetrien entdecken, können "Übersetzer" die Welt retten. Der Krieg Wolf Lepenies ist der friedensstiftende Krieg der Erkenntnis und der Gerechtigkeit. Verstehen und unparteiisch urteilen - das ist sein Lebens- und Forschungsprogramm. In seinem gesamten Werk "Pax et Justitia osculate sunt", wie es im Psalm heißt (85,11). "Gerechtigkeit und Frieden küssen sich".

Im Jahr 2001, es war zu Sommerbeginn, kam das gesamte Team des Wissenschaftskollegs nach Rumänien, um durch einen gemeinschaftlichen Ausflug die Einrichtung des New Europe College in seinem neuen Sitz zu feiern. Es war gleichzeitig der Abschluss des Rektor-Mandats für Wolf Lepenies. Nach der unvermeidlichen Bukarester Episode fuhren wir alle zusammen an die Donau, auf die Farm eines sehr talentierten, sehr tüchtigen und sehr gastfreundlichen rumänischen Dichters. Es folgte ein typisch balkanisches Festessen mit euphorisierenden Speisen, Getränken und Tänzen. Am Nachmittag, als sich jeder einen schattigen Platz oder ein Stück duftende Wiese für die Siesta ausgesucht hatte, entdeckte ich Wolf - allein, auf einem Stuhl sitzend, das Gesicht der Donau zugewandt. Er blickte in die Ferne, auf das gegenüberliegende Ufer, mit dem prüfenden und einschätzenden, leicht müden Auge eines rastenden Soldaten. Im Westen sah man die jugoslawische Grenze, im Süden die bulgarische. Ich hatte einen General vor mir, der die vorläufige Grenze seines Expansions-Projektes erreicht hatte und an einen Wendepunkt seiner Offensive gelangt war. Auf einen langen Marsch folgt die Ruhe. Wolf Lepenies ist durch verwilderte und ungerodete Gebiete vorgedrungen und hat im Hinterland die funktionelle Geometrie eines Neuanfangs hinterlassen. Das ist es, was man einen wahrhaftig erfolgreichen Feldzug nennen kann. (tso / Ins Deutsche übertragen von Malte Kessler)

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