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Völlig von der Rolle - Identitätskrise in Online-Spielen

© dpa/pa

"World of Warcraft": Rückkehr der Ritter

Elfen, Zwerge, Orks und Zauberer: Statt unsere Kultur abzubilden, bringen epische Spielwelten im Netz ihre eigenen Kulturen hervor. Computerspiele als Literatur – die Wissenschaft entdeckt ein Forschungsfeld.

Marcus ist ein guter Oberstufenschüler am Schillergymnasium in Münster – und ein ernsthafter Gamer: Über 2400 Stunden hat er bereits in Azeroth zugebracht, der fantastischen Welt des Online-Rollenspiels „World of Warcraft“. Hundert 24Stunden-Tage echter Lebenszeit, verteilt auf zwei Jahre – etwas muss dran sein an diesen neuen fiktionalen Welten, etwas, das über die reine Faszination des Spielens hinausgeht. Längst hat Marcus das höchste Level erreicht, trifft sich inzwischen auch wieder abends mit Freunden oder macht Sport; in Azeroth aber hält er sich immer noch gerne auf. „World of Warcraft“ gehört zu jenen Spielen, die auch nach dem Erreichen des Zieles noch spannend bleiben, weil sie auf Gemeinschaft setzen. Um immer neue schwierige Aufgaben zu bewältigen, organisiert man sich mit anderen Online-Spielern weltweit – es gibt inzwischen mehrere Millionen – zu Gilden. Mit denen zieht man dann in Raids oder Turniere – eine Koordinationsaufgabe, deren Komplexität manchen Jugendwart eines Sportvereins zur Verzweiflung bringen würde. Mitunter trifft man sich in Azeroth aber auch einfach zu einem Chat über die neue Freundin oder das Fernsehprogramm.

Azeroth ist eine faszinierende Welt. Eine perfekte Grafik zwischen Fotorealismus und Comic-Design präsentiert vormoderne Landschaften und Siedlungen aller Art, bevölkert von Elfen, Zwergen, Orks und Zauberern sowie allen möglichen Tieren und Fabelwesen. Wie so viele dieser Computerspielwelten geht auch diese letztlich auf Mittelerde zurück, die epische Welt aus Tolkiens Klassiker „Herr der Ringe“. Andere Erfolgsmodelle sind der „Star Wars“-Kosmos und die verwahrlosten urbanen Crime- oder Cyberpunk-Welten wie in „Grand Theft Auto“ oder „Half Life“. Was macht diese virtuellen Welten so attraktiv, dass inzwischen ganze Generationen in ihnen erhebliche Teile ihrer Jugend, wenn nicht ihres Lebens verbringen?

Tolkien war bekanntlich Spezialist für mittelalterliche Epik in Oxford. Das Epos, so lehrt die Wissenschaft, ist jene große Erzählform, in der die vormodernen Kulturen sich selbst formulierten – Homers Ilias und Odyssee für die Griechen, Vergils Äneis für die Römer, die Artusromane für das Mittelalter. In der Moderne aber, so stellte Hegel bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts fest, sei die Welt so komplex geworden, dass sie sich nicht mehr in einer großen Erzählung fassen lasse. Der Roman, die „moderne bürgerliche Epopöe“, kann nur noch Ausschnitte liefern, Fragmente, einzelne Aspekte. Hinzu kommt, dass der Held des Romans die moderne, verwaltete Welt nicht mehr verändern kann, schon gar nicht, indem er mit der Waffe in der Hand in die Welt hinauszieht. Achilles, Odysseus und Aeneas waren selbstverständlich mit Schwertern unterwegs. Wenn die Artusritter die Burg verließen, trafen sie auf eine Welt voller Gegner, Drachen und rettungsbedürftiger Jungfrauen. Bei Theodor Fontane, Thomas Mann, Franz Kafka oder Günter Grass wird man solche Helden vergeblich suchen.

Tolkiens Kniff war also eigentlich ganz simpel: Wenn sich unsere Welt nicht mehr als geschlossene darstellen lässt, in der die Handlung des Einzelnen einen Unterschied macht, dann erfinden wir eben eine neue! Eben dies hat er mit wissenschaftlicher Akribie getan: Mittelerde hat nicht nur seine eigene Geografie und Mythologie, sondern auch eigene Alphabete, eine eigene Sprachgeschichte, eigene Schriften und vieles mehr. So entsteht eine vielfältige, nicht-triviale Fantasy-Welt, die dennoch geschlossen wirkt. Und man kann hier etwas bewirken – mit einem Bogen in der Hand, unterstützt durch zahlreiche andere Fähigkeiten, Eigenschaften und Erfahrungen und natürlich mit der Hilfe guter Gefährten lässt sich hier die Welt wieder retten, und zwar aktiv: Agency heißt das Zauberwort. So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass die technisch hochgerüsteten Computerspiele lieber auf das pseudo-archaische Modell Tolkiens zurückgreifen als auf die moderne Erzählprosa. „Der Herr der Ringe“, und nicht der „Zauberberg“ oder „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, ist heute der einflussreichste Roman des 20. Jahrhunderts. Statt unsere Kultur abzubilden, bringen die epischen Spielwelten im Netz ihre eigenen Kulturen hervor.

Wo aber Kultur ist, da sind die Kultur- und Literaturwissenschaften nicht weit. In der Tat entdecken sie derzeit emphatisch die Adventure- und Action-Games für sich, nachdem sich diese längst als ein (auch wirtschaftlich) erfolgreiches Segment der Popularkultur erwiesen haben. Ihr erstes Fazit wird die Gamer wenig überraschen: Die Spiele sind komplex. Sie sind vor allem sehr viel klüger und subtiler, als der pädagogisch lamentierende Diskurs der Amoklauf-Befürchter oder Bildungshüter ahnen lässt. Wie jedes neue Genre oder Medium mit populärer Wirkung provoziert das Massenphänomen der Gaming-Welten enthusiastische Erwartung ebenso wie kulturpessimistisches Zittern. Diese Skepsis an der Qualität des Neuen hat Tradition: „Video killed the radio star“, warnten die Buggles 1981 im ersten Video auf MTV; „Fantasy braucht keinen Jugendliteraturpreis“, krittelte vor kurzem der „Büchermarkt“ des Deutschlandfunks. Auch gibt es mancherorts ganz grundsätzliche Vorbehalte gegen die Kombination von Mensch (vor allem: junger Mensch) und Personal Computer. In Japan sollen Gamer schon beim Spiel verstorben sein ...

Worin besteht nun die Komplexität der neuen Spiele, oder anders gefragt: Sind Spiele Literatur? An dieser Frage schieden sich die Geister der frühen Computerspielforschung, und sie scheiden sich daran zum Teil bis heute: Die klassische Erzählforschung sah in den Rollenspielen eine zeitgenössische Erweiterung der Gattung Erzähltext, die medienwissenschaftlich orientierten ‚Game Studies‘ der Kopenhagener IT-Universität betonten die Eigenständigkeit der digitalen Spielformate, die Theaterwissenschaft entdeckte eine neue Spielart der ‚Performance‘-Kunst und die Filmwissenschaft erkannte in den animierten Spielsequenzen (cut scenes) eine Unterart der Gattung Film. Die Wahrheit liegt, wie häufig, in der Mitte; wenn der Ruf nach Kooperation der Disziplinen je begründet war, dann im Bereich der Role Playing Games.

Das Interessante aus der Sicht der Literatur- und Kulturwissenschaft sind jedoch – und das mag überraschen – weniger das Spiel-Programm und dessen Plots. Es sind viel eher die Communities, die vielfältigen Spielgemeinschaften, die sich im Umkreis einer Game-Welt wie Azeroth entwickeln und eine neue Form sozialer Kooperation begründen. Diese Kooperation im Multiplaying ist nötig, da sich die vom Spiel gestellten Aufgaben, die Quests, nicht im Alleingang bewältigen lassen. Statt, wie oft befürchtet, asoziale Junkies zu erschaffen, produzieren solche Spiele eine neue, intensive Form von Kommunikation. Sie fördern einerseits die Regulierung des Verhältnisses von Spieler-Ich und Spielfigur, dem Avatar, der nicht nur Kompetenzen, sondern auch Schwächen haben kann. Sie fordern andererseits einen permanenten Abgleich mit den Fähigkeiten anderer und eine taktische Logistik, die den riesigen Archivbestand an ‚items‘ (Waffen, Büchern, Kräutern, Zaubertränken) kontrolliert. Erfolgreich spielen heißt nichts anderes als die gemeinschaftliche Koordination komplexer Spielverläufe, die sich in Echtzeit vollziehen. Bemerkenswert ist hier vor allem eine neue Art der ‚Social Software‘, die nicht nur – wie „Second Life“ – die eskalierende Konsumkultur des ersten Lebens in die Virtualität verlagert, sondern auf künstlerische Kreativität setzt.

Vielleicht am spannendsten sind aber jene Tätigkeiten der Communities, die ‚out of game‘, das heißt gerade dort zu finden sind, wo nicht gespielt wird: In den Blogs und Foren erfinden Online-Gamer alte Kunstformate neu. In Internetromanen und ‚Machinimas‘ (Kurzfilmen aus Spielsequenzen) gestalten sie die Welt mit ungeahnter Kreativität. Gerade solche Darstellungs- und Kommunikationsexperimente auf der Grenze von Fiktion und Wirklichkeit sind eine Herausforderung für die Literatur- und Kulturwissenschaft. Die Phänomene könnten spannender kaum sein: Wer ist der Autor der fiktiven Welt und Handlung? Der Programmierer? Oder der Spieler? Oder gar ein Kollektiv, das sich beständig ändert? Was bedeutet der Begriff Fiktion in einer Welt, in der man mit fiktiven Gegenständen echtes Geld verdienen kann? Wie funktioniert darin die Warenökonomie und -ästhetik? Welche Formen der Performance, der Präsenz und Evidenz bringt diese neue Welt hervor? Die Praktiken der Gaming Culture, die das Faktische und das Fiktive immer neu zusammenstellen, führen also nicht zum Wirklichkeitsverlust. Im Gegenteil: Sie bringen eine neue Form des Realismus hervor. Und Marcus? Marcus überlegt jetzt ernsthaft, Literaturwissenschaft zu studieren.

Moritz Baßler und Robert Matthias Erdbeer lehren Neuere deutsche Literatur an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Hier gibt es einen Forschungsschwerpunkt zum Thema „Role Playing Games und Neue Fiktionalität“.

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