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Kultur: Wucht und Weite

Der Pianist Grigorij Sokolov wagt sich im Kammermusiksaal an das Schwierigste: das Einfache

Die Erkenntnis tröstet: Der echte Künstler, der in seinem Leben schon alle Schwindel erregenden technischen Hürden genommen hat, beginnt irgendwann wieder ganz von vorn. Wendet sich dem vermeintlich Harmlosen, Einfachen zu und sucht hier nach der Wahrheit. Grigorij Sokolov, einer der wenigen wirklich Großen unter den Pianisten, beschreitet diesen Weg seit über einem Jahrzehnt konsequent: Weg vom Blendwerk und der Scheinwerferlicht-Bravour, hin zur demütigen Schlichtheit der Melodie im konzentrierten Halbdunkel kleiner Konzertsäle. Wenn er ans Ende seines Recitals im Kammermusiksaal der Philharmonie dennoch ein Werk wie Prokofjews siebte Sonate setzt, ist das nur auf den ersten Blick ein Widerspruch: Gerade deren berüchtigt virtuose Ecksätze spielt der 52-jährige Sokolov nurmehr wie aus der Erinnerung an eine Konzertpianisten-Vergangenheit heraus: Statt des federleichten, blitzschnell vom Ätzenden ins Groteske oder Leidenschaftliche umschlagenden Prokofjew-Tons nähert sich Sokolov dem Wahnwitz mit einer statischen Wucht, bleibt grübelnd auf den schweren Akkorden stehen, nutzt jede Möglichkeit, in lyrische Ruhezonen zu fliehen und sucht schon von diesem Gipfelpunkt pianistischer Brillanz den Weg zurück. Zurück zur heilen Welt der Wiener Klassik ins Idyll von Beethovens „Pastorale"-Sonate, zu den beiden kleinen, sonatinenhaft verspielten Sonaten opus 14. Und sogar noch viel weiter zurück, zu den armenischen Volkstänzen, die der Musikwissenschaftler Komitas vor 100 Jahren für Klavier arrangierte.

Hier, bei dieser schlichten Wohlfühl-Musik, die so klingt wie George Winston auf Türkisch, scheint sich Sokolov wirklich wohl zu fühlen, nimmt ein Entspannungsbad im Klang-Hammam und lässt alle Last der europäischen E-Musik-Tradition draußen vor. Die drückt bei Beethoven umso mehr: Allenthalben sieht Sokolov hier schon den späten Beethoven durchschimmern, spannt die frühen Sonätchen auf das Reißbrett einer explosiven Dynamik, stülpt Basslinien hervor und stellt einzelne Läufe wie Versatzstücke aus. An den behaglich mäandernden Melodielinien der „Pastorale“ haftet gleichsam die erdenschwere Weite der Taiga, Unbeschwertheit und Frische sind einem zögerlichen Misstrauen gewichen. Der Weg zurück ist doch der schwerste. Weil man sich selbst immer mitnimmt.

Jörg Königsdorf

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