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Kultur: Wüste und Wahrheit

Die Einsamkeit eines Entführten: Yorck Kronenbergs Roman „Ex voto“ erkundet das Stockholm-Syndrom

Entführungsopfer im Jemen, die aus der Mitte ihrer Geiselnehmer heraus um Lösegeld bitten; inhaftierte Reporter im Iran, die nicht in die Kameras zu blicken wagen: Es sind solche Fernsehbilder, die Yorck Kronenbergs Roman „Ex voto“ von der ersten Seite an heraufbeschwört. In einer geografisch nicht näher bestimmten Grenzregion wird der deutsche Arzt Robert Sieburg, der für eine humanitäre Organisation arbeitet, mit zwei Begleitern entführt. Diese verschwinden sofort, der Wagen verbrennt samt Ausrüstung. Sieburg selbst erwacht nach langer Bewusstlosigkeit – und sieht sich mit einem Auftrag konfrontiert. Der Deutsche soll als „Werkzeug“ der Entführer sein Leben und seine Gedanken aufschreiben, denn durch ihn, versichert der zwielichtige Übersetzer, werde nichts weniger als „die Wahrheit“ kommen. Doch Sieburg beschließt insgeheim: „Ich werde diese Menschen nicht über meine Gedanken herrschen lassen. Niemals.“

Enorm bedeutungsschwer geht es im zweiten Roman des 1973 in Reutlingen geborenen Pianisten und Komponisten zu. Sieben Einspielungen liegen inzwischen von dem renommierten Bach-Interpreten vor, der Karl Amadeus Hartmann und Strawinsky zu seinen Lieblingskomponisten zählt. Doch der Wahlberliner erprobt sich gleichfalls als „Schriftstellerpianist“, wie „konkret“ schrieb. 2002 entfaltete er in seinem Prosadebüt „Welt unter“ (Edition Nautilus) ein vielschichtiges, aber auch handlungsarmes Wechselspiel zwischen Realität und Fiktion. Es geht darin um einen Mann, der eines Tages erwacht und feststellt, dass er der einzig verbliebene Mensch auf der Welt ist.

Ähnlich einsam fühlt sich Robert Sieburg inmitten des Entführertrupps, der mit ihm als Geisel weiterzieht und ein kleines Bergdorf in Beschlag nimmt. Schon zuvor, erfährt er, hatte ein anderer Gefangener Tagebuch führen müssen – und wurde hingerichtet. Die Protokolle werden vom Priester des Nomadenstamms aufbewahrt, auch er eine rätselhafte Gestalt, die wie alle anderen im Ungefähren bleibt, bis auf Samira, die verführerische Tochter des Übersetzers. Zu ihr fühlt sich Sieburg hingezogen.

Kronenberg wechselt die Erzählperspektive zwischen der ersten und der dritten Person. Doch egal, ob „ich“, „Robert“ oder „der Gefangene“ die Feder führt: Der Text wirkt parabelhaft und symbolisch aufgeladen, besonders in jenen Partien, in denen Sieburg sein früheres Leben reflektiert. Er und seine Schwester litten als Kinder unter den Launen der alkoholkranken Mutter. Es schneit häufig, es zerbricht viel Glas in diesen Szenen, im Kontrast zur sonst recht eintönigen Wüsten-Partitur.

Allmählich gibt der Gefangene seinen Widerstand auf und nimmt die Rolle an, die ihm seine Geiselnehmer zugedacht haben. Sieburg erlebt das sogenannte Stockholm-Syndrom: Er beginnt sich mit seinen Entführern zu solidarisieren, bis hin zum doppeldeutigen Happy End. „Ex voto“, die Votivgabe aus einem Gelübde heraus, kreist bis zum Schluss um sich selbst. Vor lauter Abstraktion wird das Geschehen irrelevant. Das macht die Lektüre so mühsam, erst recht durch die Kunstfertigkeit, die der Autor offensichtlich anstrebt. Da ist einem der Pianist Yorck Kronenberg doch lieber.













— Yorck Kronenberg:
Ex voto. Roman, Droschl Verlag,

Graz 2011. 188 S., 19 €

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