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Kultur: Wut zum Nachdenken

Was bringt die Debatte über den Osten?

Von Frank Jansen

Sie waren turbulent, die Wochen, und es rumort weiter. Auch heute noch, vierzehn Tage nach den Äußerungen Jörg Schönbohms im Tagesspiegel über „Proletarisierung“, Gewalt und mentale Verwahrlosung in Teilen der neuen Länder, fühlen sich Ostdeutsche persönlich beleidigt. Viele melden sich zu Wort, fast immer empört. Da wird auf Schönbohm und vermeintliche „Schönbohmianer“ eingedroschen, als ginge es um eine Abwehrschlacht gegen geistige Besatzung. Aber trotz aller Misstöne und Verzerrungen birgt die Aufregung auch eine enorme Chance. Für Ost- und Westdeutsche.

Schönbohm hat eine Debatte auflodern lassen, die schon lange schwelte. Leider haben Stoiber und andere mit plumper, ostfeindlicher Agitation von den Zielen der Diskussion abgelenkt. Jahrelang wurde halblaut darüber gesprochen, welche Ursachen die sich im Osten und vor allem in Brandenburg häufenden Gewaltexzesse haben – und die weit verbreitete Augen-zu-Mentalität. Brandenburgs Innenminister hat nun eine von mehreren denkbaren Kausalketten präsentiert. Er glaubt, die von der SED erzwungene „Proletarisierung“ sei eine der wesentlichen Ursachen für Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft. Dieser Satz wäre wohl längst verhallt, hätte Schönbohm sich nicht anlässlich des unfassbaren Mordes an neun Babys in Ostbrandenburg geäußert – und das in Wahlkampfzeiten. So übertönen nun klammheimlich jubilierende und lautstark Betroffenheit deklamierende Populisten die seriösen Stimmen, die sich mit Schönbohm auseinander setzen. Diese Skandalisierung ist ein widerwärtiges Schauspiel. Außerdem fällt natürlich auf, dass nach fast allen Exzessen schlagwütiger Skinheads ein Aufschrei ausblieb, der mit der Empörung über Schönbohm zu vergleichen wäre. Und das Skandalgeschrei wirkt.

Die Mehrheit der Reaktionen ist hochgradig emotional. Das gilt für ostdeutsche „Schönbohm-muss-weg“-Forderungen genauso wie für Westler, die schlechte Erfahrungen in den neuen Ländern gemacht haben oder schlicht Anti-Ossi-Ressentiments bestätigt fanden. Nur eine Minderheit nahm Schönbohms Aussage zum Anlass, die drängendste Frage zu stellen: Wie kann der seit Jahren anhaltenden, extremen Gewalttätigkeit und der ganz normalen Gleichgültigkeit in Teilen Ostdeutschlands entgegengetreten werden?

Die Chance, einer Antwort näher zu kommen, ist jedoch, so paradox es klingt, heute größer als vor Schönbohms Interview. Die Empörung vieler Ostdeutscher mag einer verkürzten Wahrnehmung von Schönbohms Ursachenforschung entspringen, doch länger anhaltende Wut, die dann auch zunehmend ernsthaft thematisiert wird, kann ein Anfang für nachhaltige Denkprozesse sein. Als Beispiel mag die zunächst erbittert geführte Debatte über die „Wehrmachtsausstellung“ dienen, die vor zehn Jahren begann und vor allem in Westdeutschland geführt wurde.

Auch damals fühlten sich viele Bürger persönlich beleidigt, selbst wenn sie die Ausstellung nicht einmal gesehen hatten. Die gewaltige Aufregung mündete in eine breite, auch von Intellektuellen geführte Diskussion – in der dem Mythos der „anständigen“ Wehrmacht ein Ende bereitet wurde, auch wenn es bis heute nicht jeder wahrhaben will. Einen ähnlichen Tabubruch könnte nun Schönbohm angestoßen haben. Indem er „seine“ Brandenburger und die Ostdeutschen überhaupt mit der überfälligen Lektion konfrontierte, dass die Ursachen aktueller Krisensymptome wie Gewaltserien und mentale Verwahrlosung auch in ihrer eigenen Geschichte vor 1989 zu suchen sind. So schmerzhaft es sein mag. Doch es eröffnet darüber hinaus die Chance, auch die Verwerfungen und Fehlentwicklungen der fünfzehn Jahre seit der Einheit besser zu begreifen.

Diesen Erkenntnisprozess sollten Intellektuelle und andere seriöse Meinungsmultiplikatoren stärker begleiten. Damit der Impuls der Debatte nicht noch stärker im Wahlkampf verfälscht wird oder gar nach dem 18. September erlischt. Es gab sie doch einmal, die Ost- oder West- oder Westost-Experten wie Jens Reich, Günter Grass, Wolf Biermann, die über die Bundesrepublik und ihre Defekte etwas zu sagen hatten.

Es mag selbstverständlich klingen, aber die Erfahrung nach so vielen grauenvollen Verbrechen spricht dagegen. Die Einsicht, dass eine Demokratie sich nicht mit exzessiver Gewalt und der sie begünstigenden, dumpfen Gleichgültigkeit abfinden darf, muss Allgemeingut werden. Wo auch immer.

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