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Der Museumsbau des Architekten Jean Nouvel steht inmitten eines 18 000 Quadratmeter großen Gartens, einer raren Grünfläche im dicht bebauten Paris.

© Philippe Wojazer/Reuters

Zehn Jahre Musée du Quai Branly: Magie des Echten

Vor zehn Jahren wurde das Musée du Quai Branly in Paris eröffnet. Es begründete einen neuen Umgang mit außereuropäischen Kulturen – und wurde so zum weltweiten Modell.

Dem Verwaltungstrakt des Musée du Quai Branly im gutbürgerlichen 7. Bezirk ist ein Bürohaus benachbart. Zwei Angestellte lehnen an der Hauswand und rauchen ihre Pausenzigarette. Warum draußen, in der Kühle des beginnenden Frühlings? Da könnten die Ethnologen herauskommen und sogleich Feldforschung betreiben. Denn die Welt beginnt vor der Haustür, und das Musée du Quai Branly ist das „eigentliche“ Ethnologie-Museum der französischen Hauptstadt, das aber nie auf diese Zweckbestimmung beschränkt bleiben wollte und deshalb schlicht den Namen seiner Hauptadresse an der Seine angenommen hat.

Vor zehn Jahren, am 20. Juni 2006, wurde es vom damaligen Staatspräsidenten Jacques Chirac eröffnet, der die treibende Kraft der Museumsgründung war und dessen profundes Interesse an den außereuropäischen Kulturen demnächst mit einer Ausstellung gewürdigt werden soll. 290 Millionen Euro hat damals der Museumsbau mit seinen 40 000 Quadratmetern Nutzfläche nach dem Siegerentwurf Jean Nouvels von 1999 gekostet. Das derzeitige Jahresbudget beträgt stolze 65 Millionen Euro, die zu vier Fünfteln vom Staat finanziert werden.

Das Quai Branly war 2006 eine Sensation und avancierte zum Modell für Museen weltweit, die damals häufig noch, so in Deutschland, die „Völkerkunde“ im Namen trugen. Nun sollten alle Kulturen gleichberechtigt auftreten können, nicht länger mit dem wissenden Blick des hiesigen Forschers von oben herab. „Wo sich Kulturen zum Dialog treffen“, heißt die prägnante Unterzeile, wo immer der Name Musée du Quai Branly aufgedruckt ist. Mit einem Mal wollten alle Ethnologie-Museen so sein wie das Pariser Flaggschiff, wollten die Stimmen der „Anderen“ hören und die Gegenwart der hybriden Gesellschaften in den Blick nehmen, die an die Stelle indigener Kulturen getreten sind. Das bedeutet umgekehrt, dass Europa, der Westen, die moderne Welt, wie immer man es nennen mag, einbezogen wird, im Wechselverhältnis mit den Kulturen, die die Europäer einst „entdeckten“ und so aus ihrem vermeintlichen Naturzustand „erlöst“ haben.

Ein Dialog zwischen früheren und jetzigen Ausstellungen

Stéphane Martin, als Gründungsdirektor seit 1998 im Amt, sieht sein Haus durchaus nicht als allgemeines Vorbild. „Ich glaube nicht an universelle Modelle“, sagt er im Gespräch, für das er sich, wenngleich er das Thema oft behandelt hat, viel Zeit nimmt: „Universelle Modelle mag es im Fall traditioneller Museen wie einer Gemäldegalerie geben. Doch im Fall eines Museums, das versucht, mit einer anderen Kultur als der eigenen in Verbindung zu treten, muss das Museum gemäß den konkreten sozialen und kulturellen Gegebenheiten arbeiten, und die sind niemals dieselben.“

Martin, der selbst einige Jahre lang im Senegal gewirkt hat, argumentiert vom Publikum des Museums her, das sich „in den vergangenen 20 Jahren vollständig verändert“ hat. An die Stelle einer gewissen Grundkenntnis der europäischen Kultur und weitgehender Unwissenheit über Außereuropäisches sei das Gegenteil getreten: „Wenn man heutzutage Zehnjährige fragt, wie die Maya Menschenopfer dargebracht haben, antworten sie, durch Herausreißen des Herzens, aber wenn man ihnen eine Kreuzabnahme zeigt, fragen sie, wer ist denn der auf dem Bild?“ Aus solchen Beobachtungen erwuchs die Entscheidung, die Hälfte der Ausstellungsflächen für Wechselausstellungen zu reservieren und nur die andere Hälfte für die Präsentation der Sammlung, und zwar „neutral in dem Sinne, dass beispielhafte Objekte gezeigt werden, versehen mit nur den nötigsten Informationen, woher es kommt, von wem gesammelt, aber sehr wenig thematischem Zugang wie ,Liebe‘ oder ,Krieg‘ oder ,Austausch‘“. Die Sonderausstellungen jedoch werden von einzelnen Kuratoren gestaltet, die die Verantwortung tragen.

„Wir setzen voraus, dass die Besucher wieder und wieder ins Haus kommen und in einen Dialog eintreten zwischen früheren und jetzigen Ausstellungen oder den verschiedenen, die gleichzeitig stattfinden“, erläutert Martin, der sich für sein Amt auch nach bald zwei Jahrzehnten spürbar begeistert: „Wir arbeiten wie ein Magazin mit einer editorischen Linie, indem wir Autoren als Gastkuratoren einladen in der Erwartung, dass sie gut sind – manche sind’s dann vielleicht nicht.“

Das Musée du Quai Branly hat zahlreiche Ausstellungen veranstaltet, knapp 100 bislang, doch die blockbuster überlässt es eher anderen Institutionen. „Man braucht das Branly nicht für eine riesige Maya-Ausstellung, das kann man im Grand Palais machen oder im Martin-Gropius-Bau“, sagt Martin, der sich bestens informiert zeigt über die Berliner Situation und die Pläne fürs Humboldt-Forum – „eine gewaltige Einrichtung, bei der die Auffassung des eigenen Teams viel stärker sein wird“ als die von Gastkuratoren. Er betont auch den Unterschied zu den Blockbuster-Veranstaltern: „Unsere Aufgabe ist es, die Nischen aufzuspüren, als Schlüssel zum Verständnis der Welt.“

20 Prozent der Besucher waren vorher noch nie in einem Museum

Der größte Teil aller Ausstellungen „lebender“ Kulturen, so Martin, wird von Kuratoren aus diesen Regionen erarbeitet, und da hat er wieder das Publikum im Blick: „Wir arbeiten, so viel es geht, mit der Diaspora in Frankreich“, mit den Minderheiten aus anderen Kulturkreisen. „Wir haben eine ganze Menge Besucher aus der banlieue“, aus den problembeladenen Vorstädten rings um Paris, berichtet Martin, „und allein 30 Prozent unserer Besucher sind zwischen 18 und 30 Jahre alt – die kostbarste Gruppe, denn die sind am schwierigsten zu kriegen. Und 20 Prozent der Besucher sind vorher noch nie in einem Museum gewesen.

Diese Zahlen verdeutlichen, dass das Quai Branly in der französischen Hauptstadt mit ihren zahlreichen Museen von Weltrang eine Sonderstellung einnimmt. Es ist eben nicht den schönen Künsten vorbehalten und nicht einmal, wie Martins Hinweis auf eine Maya-Ausstellung im Grand Palais belegt, den außereuropäischen Völkern allein in ihren kulturellen Hochleistungen. Selbstverständlich gibt es die auch im Museum Quai Branly; sie sind zu bewundern etwa in den 28 unterschiedlichen Boxen, die Architekt Nouvel im Hauptgeschoss des überwiegend auf Stelzen stehenden Gebäudes aus der Fassade heraustreten lässt.

Die 300 000 Objekte starke Sammlung, hervorgegangen aus den Beständen des mittlerweile neu konzipierten „Museum des Menschen“ sowie des früheren, später umbenannten Kolonialmuseums – erst 1931 gegründet! –, umfasst vier Erdteile, nicht jedoch Europa. Das macht die Sonderausstellungen so wichtig, denn über sie kann der viel beschworene „Dialog“ geführt werden. Wie in der Ausstellung, die die Filmregisseurin Claire Denis 2008 über den Einfluss der afrikanischen Diaspora innerhalb Europas auf die Gegenwartskunst eingerichtet hatte.

Gerade der zeitgenössischen Kunst gilt besondere Aufmerksamkeit, jenen Künstlern und Werken, die zwischen die Kategorien von globaler Markt-Kunst auf der einen und traditionellen Kunstpraktiken auf der anderen Seite fallen – wenngleich diese Unterscheidung mehr und mehr verschwimmt, gerade in Paris, wo 1989 die epochale Ausstellung „Magiciens de la terre“ erstmals Künstler aller Kontinente gleichrangig vorgestellt hatte.

Der Unterschied zwischen virtual reality und real thing

Immer wieder wird die Geschichte von Kolonialisierung, Ausbeutung und Entwurzelung zum Thema. Die 2011/12 ein halbes Jahr lang gezeigte Ausstellung „Menschenzoo“ handelte vorrangig von Europa, vom Westen: Sie zeigte – so der Untertitel – die „Erfindung des Wilden“, die Zurschaustellung von Angehörigen der „Naturvölker“ auf Jahrmärkten, in Tierparks, auf Welt- und Kolonialausstellungen, auf Postkarten, im Film, auch im Revuetheater – die Hysterie um Josephine Baker ist nicht zu verstehen ohne diesen Kontext.

„Kontextualisierung“ ist zwar ein Begriff, ohne den kein Museum mehr operiert. Doch, sagt Stéphane Martin, gehe es nicht „um ein bisschen Sand unter einer Skulptur und dazu ein Schwarz Weiß-Foto“, nicht um eine „Skizzierung der ursprünglichen Situation“, sondern um eine Annäherung an den Besucher, sodass dieser auf seine Weise das Objekt versteht – und auch darum, dass „ein Objekt im Museum vieles verloren“ hat.

„Nichts überrascht die jungen Leute noch“, kreist Martin um das Thema, das ihn so bewegt, „selbst Science-Fiction-Bilder liefern ihnen eine gewisse Ahnung dessen, was sie im Museum sehen werden“. Und doch sei „die Magie des authentischen Objekts auch in einer Zeit der Virtualität sehr stark. Die jungen Leute können zwischen virtual reality und dem real thing sehr gut unterscheiden.“

Zufällig wird just zum zehnjährigen Bestehen des Quai Branly an einem ganz anderen Ort von Paris, im Musée de l'Orangerie, eine Übersicht zu Werk und Wirkung des Dichters und großen Anregers Guillaume Apollinaire gezeigt, der die „Negerkunst“ seinen Freunden nahegebracht hat, allen voran Picasso. Apollinaire war es, der schon 1917 im Louvre ein „Museum der exotischen Künste“ einrichten wollte. Der Politiker Chirac hat es dann im Jahr 2000 verwirklicht, mit dem Saal der „Arts premiers“ für Meisterwerke aller außereuropäischen Kulturen.

Aus diesem Perspektivwechsel ging das Musée du Quai Branly hervor. Dass es heute, nach zehn Jahren, international besehen nicht mehr ganz so einzigartig dasteht, ist wohl sein größter Erfolg.

Do – Sa, 11 – 21 Uhr, Mo, Di, Mi, So 11 – 19 Uhr. Infos: www.quaibranly.fr

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