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Einer der Schauplätze von Stendhals Roman "Die Kartause von Parma": Lago Maggiore, Italien.

© imago images/CHROMORANGE

Zehn Literaturklassiker für zu Hause, für immer: Der weite Raum

Liebe und Liebesnöte, Glaube und Glaubensnöte, Poesie, die Ruhm nicht braucht: Zehn Bücher für daheim von Flaubert, George Sand, Stendhal und anderen.

1. F. Scott Fitzgerald: Die Schönen und die Verdammten. (Übersetzt von Hans Christian Oeser. Diogenes, 495 Seiten, 14 €.)

Das Leben geht weiter, die Natur macht weiter, trotz Covid-19, und auch die Liebe gibt es noch. Kaum jemand konnte so treffende Sätze über die Liebe und das Liebesscheitern schreiben wie F. Scott Fitzgerald. „Es gibt alle Arten von Liebe auf der Welt, aber niemals die gleiche Liebe zweimal“, heißt ein Schlusssatz einer seiner vielen brillanten Erzählungen aus den zwanziger Jahren.

Das gilt auch für die Liebe von Anthony und Gloria, von deren Niedergang Fitzgerald in seinem zweiten, 1922 veröffentlichten Roman „Die Schönen und die Verdammten“ erzählt. Das Miteinander dieses schillernden Paares ist ein dauerhaft krisenhaftes. Trotzdem laufen beide unentwegt dem Glück und der Großartigkeit des Anfangs hinterher. Aber „der Zauber muss weiterhasten und die Liebenden bleiben zurück.“ „Die Schönen und die Verdammten ist ein faszinierend desillusionierender Roman, der ein bisschen zu Unrecht im Schatten von Fitzgeralds berühmtesten Romanen „Der große Gatsby“ und „Zärtlich ist die Nacht“ steht.

2. Jane Austen: Emma (Übersetzt von Angelika Beck. Insel, 571 Seiten, 10 €.)

Um die Liebe und fast nichts anderes geht es auch in Jane Austens 1816 erschienenem Roman „Emma“. Schön, klug und reich ist diese Emma Woodhouse, Austens Heldin, selbstbewusst und emanzipiert. Mit der Ehe hat sie es nicht so, dafür umso mehr mit dem Zusammenbringen anderer Paare. Das Ausmaß ihr eigenen Verliebtheit ist ihr kaum bewusst, es wechselt zudem oft.  

Trotzdem erwischt es irgendwann auch Emma sehr schwer in diesem so schön schwebenden und reichen Roman, an dem es am Ende drei Hochzeiten und einen Todesfall gibt. „Ich habe ,Emma’ mindestens zwanzig Mal gelesen“, so J. K. Rowling auf dem Buchrücken meiner Taschenbuchausgabe. Ob das stimmt?  Einmal sollte man „Emma“ jedenfalls gelesen haben.

3. Gustave FlaubertMadame Bovary. (Aus dem Französischen von Maria Dessauer. Insel 2007, 454 Seiten, 10 €.)

Noch eine Emma, eine noch berühmtere als jene von Austen, in einem anderen Land, in kleineren Verhältnissen, knapp vierzig Jahre später: Gustave Flauberts Emma Bovary. Sie steckt schon tief drin in der Ehe und will ihr entfliehen. Wie viel Mut und unbedingten Willen zur Leidenschaft, wie viel Enthusiasmus, wie viele dunkle Tiefen hat Flaubert seiner Heldin verliehen!

Allein, wie sie zu ihrem Léon nach Rouen eilt und der Anblick der Stadt ihr zu Herzen geht: „Ihre Liebe wuchs angesichts dieses weiten Raums, und der heraufsteigende verworrene Lärm erfüllte sie mit Toben.“ Obwohl „Madame Bovary“ als Klassiker des realistischen Romans gilt, hat dieser Realismus Tücken.

Wie schrieb Flaubert es an seine Freundin George Sand, deren Romane seine Emma mit Vergnügen liest: „Beachten Sie, dass ich das verabscheue, was man gemeinhin den Realismus nennt, wenngleich man mich auch zu einem seiner Päpste macht.“

4. George SandLélia (Aus dem Französischen von Anna Wheill. Insel, 289 S., 9 €.)

„Madame Bovary, c’ est moi“ heißt Flauberts berühmter Ausspruch. Mag sein. Heißt aber nicht, dass Emma Bovary nicht hie und da Züge von eben jener George Sand besitzt, der jungen jedenfalls. Ein turbulentes, wechselvolles, glamourös anmutendes Leben hatte diese Schriftstellerin, die 1804 als Aurore Dupin geboren wurde.

Wer waren nicht alles ihre Liebhaber, von Prosper Mérimée über Alfred de Musset bis zu Chopin, wer nicht ihre Freunde, von Saint-Beuve bis Flaubert, wer nicht ihre späteren Bewunderer, wie Proust. Ein Leben wie ein langer Roman, den die 1876 verstorbene Sand mit „Geschichte meines Lebens“ auf 1600 Seiten auch geschrieben hat. „Léila“ ist knapper, kompakter, mit einer eigensinnigen, rebellischen Heldin. Von der sagte Sand, diese habe viel von ihr. „Lélia, c’ est moi“. Was nur die halbe Wahrheit dieses furiosen, wütenden, auf der kurzen, heftigen Affäre mit Mérimée basierenden Romans ist.

5. Philip RothNemesis. (Übersetzt von Dirk van Gunsteren. dtv, 218 Seiten, 12 €.)

Genug der Liebe, zurück in die Gegenwart, die Corona-Realität, eine zumindest vergleichbare in der Literatur. Der 2018 verstorbene Schriftsteller Philip Roth hat in einem seiner letzten Romane, „Nemesis“, von einer Polio-Epidemie im Sommer 1944 an der Ostküste der USA erzählt – und von einem Sportlehrer, den schwere Schuldgefühle plagen, dem dazu noch der Glaube abhandengekommen ist. „Glaubst du wirklich, dass Gott deine Gebete erhört hat“, fragt er seine Frau. Und meint, dass kein Jude zu einem Gott beten könne, „der einem Viertel mit Tausenden und Abertausenden Juden einen solchen Fluch auferlegt hat“.

Man könnte sagen, dass hier ein Krieg nicht gegen die Epidemie, sondern gegen Gott geführt wird – und „Nemesis“ einer der besten Romane ist aus Roths sowieso großartigem, schlackenlosen, erzählökonomisch auf den Punkt gebrachten Spätwerks.

6. Thomas BernhardAmras. (Suhrkamp Verlag, 99 Seiten, 7 €.)

Und weiter in der Corona-Realität, mit dem ständigen Zufluchtsort, der unsere eigenen vier Wände geworden sind. Bei Thomas Bernhard dienen diese häufig als unbedingte Schutzräume seiner Erzähler, man denke an das Haus an der Engstelle der Aurach in „Korrektur“, an die „Höllersche Dachkammer“.

Aber auch an den Turm in Bernhards Erzählung „Amras“ von 1964; ein Turm, „der uns in diesen zweieinhalb Monaten eine vor dem Zugriff der Menschen schützende, vor den Blicken, der immer nur aus dem Bösen handelnden und begreifenden Welt bewahrende und verbergende Zuflucht gewesen ist“.

Zwei Brüder, deren Eltern Selbstmord verübt haben, der eine Epileptiker, schwer krank, beide „Feinde der Prosa“; dazu Büchner und Novalis als Paten im Hintergrund. „Amras“ ist eine ungemein düstere Erzählung, eine Todes- und Totenerzählung. Wer sie liest, ist gewappnet – und wird plötzlich draußen selbst dieser Tage alles hell und licht empfinden.

7. Virginia WoolfOrlando. Eine Biografie. (Aus dem Englischen von Brigitte Waltizek. Fischer, 294 Seiten, 9 €.)

Michael Kumpfmüller hat sich gerade an einem Roman über die letzten Tage der Schriftstellerin Virginia Woolf versucht, „Ach, Virginia“, der bei der Kritik auf ein geteiltes Echo stieß. Also vielleicht besser Woolf-Bücher lesen, passenderweise „Orlando. Eine Biografie“, eine Parodie auf traditionelle Biografien.

Woolf schildert Episoden aus dem fast vierhundert Jahre währenden Leben eines jungen englischen Lords, der 1586 sechzehn Jahre alt ist und an dessen Geschlecht es keine Zweifel gibt, „wenn auch die Mode der Zeit einiges tat, es zu verhüllen“.

1928 ist dieser junge Mann, gerade einmal zwanzig Jahre gealtert, zu einer Frau geworden, einer erfolgreichen Schriftstellerin, die sich fragt: „Was haben Ruhm und Ehre mit Poesie zu tun?“ (...) War das Schreiben von Poesie nicht eine geheime Transaktion, eine Stimme, die einer Stimme antwortete?“ Woolf hat dieses Buch ihrer Freundin Vita Sackville-West gewidmet, auf deren Familiengeschichte es beruht. „Orlando“ ist Woolfs heiterster, schwungvollster, stimmungsreichster Roman – und einer, der, ohne großes Gewese daraus zu machen, den gender trouble der Gegenwart vorweggenommen hat.

8. Colm Toíbín: Porträt des Meisters in mittleren Jahren. (Aus dem Englischen von Ditte u. Giovanni Bandini, dtv, 432 S., 13 €.)

Überaus gelungen ist das Romanporträt, das der irische Schriftsteller Colm Toíbín 2004 über Henry James geschrieben hat. Es setzt 1895 ein, da ist James 52 Jahre alt, und beschränkt sich dann auf vier Jahre im Leben von James. Doch Colm Toíbín arbeitet mit ausgreifenden Vor- und Rückblenden; vor allem fühlt er sich in die Seelenzustände seines Helden so überzeugend ein, in dessen Schreib–, Lebens–, und Liebesnöte, dass man zeitweilig den schönen Eindruck hat, mit Toíbíns Henry-James-Figur einen typischen Henry-James-Roman zu lesen.

9. Nathalie Sarraute: Zwischen Leben und Tod. (Aus dem Französischen von Elmar Tophoven. KiWi,, nur noch antiquarisch)

Literatur ist essentiell, kann hier unterhalten, vermag es dort, Leben mit Sinn zu füllen, zu retten gar. Das gilt gerade für die Autoren und Autorinnen selbst. Weshalb auch Nathalie Sarraute ab den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts immer tiefer in ihre eigene Psyche stieg, um daraus mit Büchern zurückzukehren, die keine Geschichten erzählen, die kein realistisches Interieur haben, keine Figuren aus dem wirklichen Leben.

Sarraute war eine der führenden Vertreterinnen des nicht gerade smarten, alles andere als anschmiegsamen nouveau roman. „Zwischen Leben und Tod“ ist eine Art spätes Manifest von Sarraute, eine Auseinandersetzung mit dem literarischen Schreiben, mit dem Kampf, der dieses Schreiben bedeutet: mit den Wörtern, der Sprache, eben ein Kampf auf Leben und Tod. Sich einmal mit Sarraute, dem nouveau roman auseinandersetzen? Wann, wenn nicht jetzt! Zur Entspannung lassen sich danach immer noch Flaubert oder Stendhal lesen.

10. StendhalDie Kartause von Parma (Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser Verlag, 1000 Seiten, 38 €.)

Zurück zur Liebe. Über die hat der französische Schriftsteller Henri Beyle alias Stendhal 1822 ein ganzes Buch geschrieben. „Über die Liebe“ mutet zwar modern an, weil es ein Sammelsurium aus Gedanken, Fiktionen und autobiografischen Einschüben ist. Das Buch enthält aber einige hanebüchene Überlegungen zur Rolle der Frau, zur Erziehung junger Mädchen.

Deswegen an dieser Stelle lieber „Die Kartause von Parma“, einer von den zwei großen Romanen Stendhals. 1839 veröffentlicht, hat dieser in Fabrizio einen läppischen, dusseligen Helden, wimmelt nur so von großartigen Szenen wie Fabrizios Teilnahme an der Schlacht von Waterloo oder seiner Befreiung aus einer Turmgefangenschaft, von tollen Naturbeschreibungen (Comer See, Lago Maggiore, Lago di Garda).

Zudem gibt es in „Die Kartause von Parma“ als Gegenpol zu Fabrizio eine großartige, souveräne Frauenfigur, seine Tante Gina, die Herzogin. Und nicht zu vergessen Sätze wie diese: „Politik in einem literarischen Werk ist wie ein Pistolenschuss in einem Konzert, etwas Vulgäres, dem man seine Aufmerksamkeit nicht entziehen kann.“ Man ersetze Politik durch Coronavirus – und weiß, womit sich die Literatur des nächsten Jahrzehnts beschäftigen wird.

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